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WIPR I - Einführung in die juristische Methodik

Systematische Fallbearbeitung

Von Juristen wird in der Ausbildung die sog. systematische Fallbearbeitung verlangt. Dies ist nichts Anderes, als eine bestimmte Prüfungsform im Studium, mit der das Denken in Strukturen geprüft werden kann. Denn ohne Denken in Strukturen kann eine systematische Fallprüfung nicht gelingen. Geht man nicht systematisch und strukturiert vor, ist dem Ergebnis der Arbeit nicht zu trauen. Ein nachvollziehbarer, logischer und mit plausibler Begründung versehener Weg der Lösungsfindung überzeugt im Streitfall den Richter mehr als ein wie im Quiz geschossenes, sei es auch so geniales Ergebnis. Deshalb muss die systematische Fallbearbeitung im Zentrum jeder juristischen Ausbildung stehen.

A. Gutachtenstil
Dabei bedeutet die systematische Fallbearbeitung nicht nur einen gedanklichen Vorgang, die Problemanalyse. Neben der strukturierten Denkweise (vgl. bereits die Hinweise zur juristischen Struktur) gehört hierzu auch eine saubere Formulierung dessen, was als Ergebnis der Analyse präsentiert werden soll. Der Richter formuliert in der Regel im sog. Urteilstil, bei dem er seine Entscheidung zunächst nennt und sie anschließend begründet. In der Ausbildung sowie in der juristischen Beratung ist hingegen der Gutachtenstil das geeignetere Instrument, weil es einen logischen Gang von Frage zur Antwort adäquat abbildet.

Der Gutachtenstil verlangt vom Gutachter Benutzung bestimmter Struktur der Darstellung seiner Überlegungen zur juristischen Frage. Dies geschieht nach folgendem Muster:

  1. Obersatz zur Hauptfrage
  1. Voraussetzungen
  1. Subsumtion
  1. Ergebnis

Die einzelnen Schritte eines Gutachtens sind nachstehend im Detail zu erläutern.

1. Der Obersatz zur Hauptfrage
Beim Obersatz ist das Ziel nicht etwa, die Hauptfrage als eine offene Frage zu formulieren. Vielmehr ist zu überlegen, was die eindeutige Antwort auf die gestellte Frage sein könnte. Mehr noch: bei der Formulierung des Gutachtens ist die mögliche Antwort bereits an dieser Stelle - allerdings im Konjunktiv - zu formulieren. Dadurch beschränkt sich die anschließende Prüfung auf die Überlegung, ob die im Obersatz genannte Hypothese mit bloßem "ja" oder "nein" beantwortet werden muss.

Beispiel: "A könnte gegen B einen Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises gem. § 433 Abs. 2 BGB haben"

 

2. Voraussetzungen
Die genauen rechtlichen Regeln, denen die jeweilige Frage unterstellt ist und die bei der Beantwortung der Frage zu beachten sind, müssen im zweiten Schritt des Gutachtens genannt werden. Es ist mit anderen Worten der Prüfungsmaßstab für die eingangs aufgeworfene Frage zu formulieren. Nach der Formulierung einer denkbaren Antwort ("es könnte XYZ sein") ist festzustellen, wann dies so ist. Die zu erfüllenden Bedingungen sind zu nennen.

Beispiel: "Dafür muss zwischen A und B ein wirksamer Kaufvertrag bestehen."

 

3. Subsumtion
Der Schritt, bei dem die eigentliche Rechtsanwendung stattfindet, ist die sog. Subsumtion. Hier wird geprüft, inwiefern die im Schritt 2 identifizierten Voraussetzungen im zu prüfenden Einzelfall erfüllt sind oder nicht. Jede Voraussetzung ist dabei genau zu untersuchen.
Die Schwierigkeit dieses Schrittes im Gutachten besteht darin, dass jede einzelne Voraussetzung (in der oben genannten Beispielsformulierung ist dies z. B. ein Kaufvertrag) sehr komplex sein kann und nicht auf Anhieb beantwortet werden kann. In solchen Fällen ist - wenn man eine Formulierung aus der Mathematik bemüht - eine Klammer zu öffnen, innerhalb welcher ein komplettes "Untergutachten" durchzuführen ist:

    1. Obersatz zur Unterfrage (Beispiel: "Hier könnte ein Vertrag geschlossen worden sein.")
    1. Voraussetzungen (Beispiel: "Dafür ist erforderlich, dass eine Partei Angebot erklärt hat und die andere dieses angenommen hat.")
    1. Subsumtion (Beispiel: "A hat dem B ... vorgeschlagen. B stimmte dem zu.")
    1. Ergebnis (Beispiel: "Damit haben A und B einen Vertrag geschlossen.")

4. Ergebnis
Nachdem die Subsumtion aller Voraussetzungen durchgeführt ist - abhängig von dem Ausgang der Subsumtion - das Ergebnis der Prüfung festzuhalten.

Beispiel: "A hat gegen B einen Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises gem. § 433 Abs. 2 BGB."

 

Auch beim Gutachtenstil zeigen sich Vorteile der strikten Befolgung von Strukturen - der Gutachtenstil hat die Aufgabe, die Struktur abzubilden. Deshalb finden sich alle Elemente der Struktur einer Rechtsnorm (Rechtsfolge - Voraussetzungen) auch im (Teil-)Gutachten zu einer einzelnen Norm wieder. Die denkbare Antwort, die eingangs zu formulieren ist, ist nichts Anderes, als eine mögliche Rechtsfolge einer Norm. Im zweiten Schritt ist die Kehrseite der Rechtsnorm zu nennen: ihre Tatbestandsmerkmale. Sind die Tatbestandsmerkmale erfüllt (die Prüfung dieser Frage erfolgt bei der Subsumtion) kann im Ergebnis festgehalten werden, ob die Rechtsfolge eintritt oder nicht.

Folgende Abbildung schildert dies etwas genauer:
 (image: http://ife.erdaxo.de/uploads/WIPR1Fallbearbeitung/gutachten_vs_struktur.png)

B. Systematische Fallbearbeitung und Rechtsstaat
Die systematische Fallbearbeitung ist keine sinnfreie Kunst. Für eine strukturierte, für Gleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte sorgende und kalkulierbare Rechtsanwendung sind klare Anwendungsregeln zwingend erforderlich. Deshalb erfüllen die Regeln für die juristische Werkstatt eine wichtige Aufgabe im Hinblick auf die Rechtsstaatlichkeit der Rechtsordnung. Die wissenschaftliche Methode der (praktischen) Rechtswissenschaft macht es möglich, Rechtsanwendung vorhersehbar zu machen und auf die Rechtsordnung überhaupt zu vertrauen.

In vielen Ländern, in denen vielleicht einwandfreie Verfassungen erlassen sind, wird immer wieder mit Erstaunen festgestellt, dass die geschriebenen Regeln - ob in der Verfassung oder im einfachen Gesetz - häufig nichts wert sind. Dies hängt sehr häufig - neben mangelhaften Prozeduren - damit zusammen, dass dort keine strukturierte, systematische Rechtsanwendung gelebt wird.

Und zum Schluss noch ein kleiner Hinweis, der die vorangegangenen Ausführungen auf eine andere Art und Weise zusammenfasst: die systematische Fallbearbeitung ist kein Kreuzworträtsel; auf das Ergebnis kommt es viel weniger an, als auf die nachvollziehbare, logische und gemäß der Problemstruktur durchgeführte Analyse!

C. Ein Beispiel
Wie der Gutachtenstil im konkreten Fall aussehen könnte, soll nachstehend kurz geschildert werden.

1. Sachverhalt
Vgl. das Beispiel 2 hier

2. Kurze Analyse
P kann das Gerät behalten, wenn ihm diesbezüglich ein Recht zusteht. Dieses Recht kann sich im vorliegenden Fall aus dem Vertrag zwischen P und D ergeben. Deshalb wird sich das Gutachten auf die Prüfung eines Vertrages beziehen - ausgehend von der im Fall aufgeworfenen Frage.

3. Das Gutachten
Die Nummerierung bezieht sich auf die oben genannten Schritte im Gutachten (vgl. Punkt Gutachtenstil). Selbstverständlich wird ein "richtiges" Gutachten nicht in einer Tabelle und mit den unten angegebenen Erläuterungen (rechte Tabellenspalte) verfasst - an dieser Stelle soll die Tabelle lediglich einige Eckpunkte eines einfachen Gutachtens zeigen und die innere Struktur des Gutachtens genau veranschaulichen.

SchrittFormulierung im GutachtenErläuterung
1P könnte das Gerät behalten.Obersatz - Hauptfrage - Punkt 1
2Dafür müsste zwischen P und D ein Vertrag bestehen, der zum Behalten der Sache berechtigt.Voraussetzungen - Punkt 2. Hier ist es nur eine.
3Zu prüfen ist, ob zwischen P und D ein Kaufvertrag besteht.Einstieg in die Subsumtion - Punkt 3. Da dies nicht mit einem Satz festgestellt werden kann, ist hier genauer zu gliedern - das Gutachten beginnt sozusagen "von vorn"
3aZwischen P und D könnte ein Vertrag bestehen, indem sie die Übersendung der Ware vereinbart haben.Ein neuer Obersatz - zur Teilfrage - Punkt 3. a)
3bDafür müssten sie den Vertrag geschlossen haben (a), es müsste sich dabei inhaltlich um einen Kaufvertrag handeln (b) und dieser müsste auch wirksam sein (c).Dies sind wieder die einzelnen Voraussetzungen zur Beantwortung der Teilfrage, Punkt 3b
3cP und D haben per E-Mail Kontakt aufgenommen und haben zum Ausdruck gebracht, dass P ein Notebook kaufen, D verkaufen will. Damit brachten Sie zum Ausdruck, dass ein Vertrag geschlossen wird. (...) Dabei sollte P das Gerät gegen Kaufpreis behalten. Dies bedeutet, dass zwischen P und D auch ein Kaufvertrag geschlossen werden sollte. Subsumtion der Voraussetzungen, die unter 3b genannt wurden - damit gehört dies zu Punkt 3c im Sinne der oben dargestellten Übersicht zu Gutachtenstil
Allerdings stellt sich die Frage, ob der Vertrag auch wirksam ist. Der Vertrag könnte dadurch gem. § 142 BGB unwirksam sein, dass P im vorliegenden Fall irrtümlich einen anderen Preis angegeben hat, als eigentlich gewollt und deshalb vom Vertrag Abstand nehmen möchte.Hier taucht bei der Subsumtion ein Problem auf, der einer näheren Betrachtung bedarf. An dieser Stelle ist erneut tiefer in die Details einzusteigen und eine weitere Ebene des Gutachtens ist mit einem Obersatz; eine weitere Frage wird deshalb im Konjunktiv aufgeworfen
(...) die Anfechtung wäre an dieser Stelle im Detail zu prüfen - zur Vereinfachung wird dies hier nicht abgebildet.
3dDa der Vertrag infolge Anfechtung gem. § 142 BGB nichtig ist, besteht zwischen P und D kein VertragNun ist das Ergebnis zur Frage zu liefern, ob ein Vertrag besteht
4Deshalb kann P das Gerät nicht behaltenAnschließend ist das Gesamtergebnis festzuhalten - die "letzte Klammer" ist zu schließen


Weiter mit einigen Lernhinweisen.
Beachten Sie auch die grundlegenden Hinweise zur Methodik der Fallbearbeitung.

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