Fallbeispiel: Bindung des Ministers an Gesetz?
A. Sachverhalt
Die rot-grüne Koalition beschließt noch kurz vor Ende der Legislaturperiode, dass alle Kernkraftwerke (KKW) ausnahmslos zum 31.12.2015 abgeschaltet werden. Das entsprechende Gesetz sieht unter anderem vor, dass:
(1) Der Bundesminister für Umwelt setzt in einem Verwaltungsakt, der sofort vollziehbar ist, fest, wann genau die Abschaltung zu erfolgen hat und regelt die Kostentragung für den Rückbau der Anlage.
(2) Die Abschaltung nach Abs. 1 erfolgt zwischen dem 01.01.2010 und 31.12.2015 .
Das Gesetz tritt noch vor den Neuwahlen in Kraft, die an die KKW-Betreiber gerichteten Verwaltungsakte können jedoch nicht mehr erlassen werden. Der Bundesumweltminister A im neuen Kabinett, das nach den Wahlen gebildet wurde, weigert sich, die Forderungen aus den Reihen der Grünen (nunmehr in der Opposition) zu befolgen und das Gesetz zu vollziehen. Er meint, er könne das Gesetz nicht vollziehen, weil seine kurzen Abschaltungsfristen einer unzulässigen Enteignung gleichzusetzen sind. Ein verfassungswidriges Gesetz dürfe er nicht vollziehen.
Frage 1: Muss A die Verwaltungsakte erlassen?
Frage 2: Was ist dem A anzuraten?
vgl. http://80.237.160.189/taris/?path=0-3&root=133
B. Lösungsskizze
1. Frage 1 - Verwerfungskompetenz?
A muss die Verwaltungsakte erlassen, wenn er dazu rechtlich verpflichtet ist. Als Minister ist er Teil der Exekutive, die Gesetze zu vollziehen hat. Sofern das Gesetz zur Abschaltung von Kernkraftwerken eine Verpflichtung zum Erlass entsprechender Verwaltungsakte konstituiert und der Verwaltung kein Ermessensspielraum überlässt, ist die Verwaltung (in diesem Falle das Ministerium als Verwaltungsspitze) verpflichtet, das Gesetz umzusetzen.
Problem: das Gesetz könnte verfassungswidrig sein.
Bearbeitungshinweis: auf die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes kommt es nur dann an, wenn sie es rechtfertigen könnte, das Gesetz nicht zu vollziehen. Also ist zunächst die Frage zu prüfen, inwiefern die Verfassungswidrigkeit der Verwaltung es ermöglicht, Gesetze zu verwerfen.
Die (eventuelle) Verfassungswidrigkeit des Gesetzes könnte zur Folge haben, dass A nicht mehr an dieses Gesetz gebunden ist. Es stellt sich die Frage, inwiefern das GG eine derartige Verwerfungskompetenz und direkte Bindung an die Verfassung der Verwaltung zubilligt.
Folgende Argumente sind denkbar:
- Art. 100 I GG - führt zu keinem eindeutigen Ergebnis;
- Art. 93 I GG ist nur ein Katalog der Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht;
- entscheidend: Art. 20 Abs. 3 GG - direkte Bindung der Gesetzgebung an die Verfassung und der Verwaltung - an Recht und Gesetz; also nicht direkt an die Verfassung, sondern über einfaches Recht; ein verfassungswidriges Gesetz ist zwar grundsätzlich nichtig, dies trifft allerdings nicht zu auf ein Gesetz, das ein Minister für verfassungswidrig hält.
Fazit:
Art. 20 Abs. 3 GG lässt eine Verwerfungskompetenz der Verwaltung im Hinblick auf verfassungswidrige Gesetze nicht zu. Auch dann, wenn A überzeugt ist, dass das Gesetz verfassungswidrig ist, muss er dieses vollziehen und darf es nicht einfach verwerfen.
2. Frage 2 - richtiges Vorgehen?
vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG
A kann das Verwaltungsverfahren aussetzen und den Bundeskanzler überzeugen, dass eine abstrakte Normenkontrolle notwendig ist. Im Übrigen kann selbstverständlich politische Lösung erfolgen, sofern möglich (neues Gesetz oder Aufhebung des alten).
C. Literaturhinweise
Schwerdtfeger, Rn. 606, 656;
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