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Fallbeispiel: Klage gegen EG-Vertragsänderung
Die Regierungen der EG-Mitgliedstaaten unterzeichnen einen Vertrag zur Änderung des EG-Vertrages (EGV). Die Änderung betrifft insbesondere die bisher nur in Ansätzen erfolgte Integration in den Bereichen Steuern und Sicherheitspolitik. Unter anderem enthält der neue EGV Folgende Regelung:
"Die Europäische Gemeinschaft ist für die Rechtsetzung hinsichtlich der Steuern und Abgaben ausschließlich zuständig. Die Einnahmen aus Steuern und Abgaben jeder Art stehen der Europäischen Gemeinschaft zu. Die Mitgliedstaaten erhalten Finanzmittel aus dem Haushalt der Europäischen Gemeinschaft nach einem in einer Rechtsverordnung des Rates festgelegten Schlüssel."
Der Bundestag und der Bundesrat stimmen dem Vertrag ordnungsgemäß per Gesetz zu. Der pensionierte Richter A akzeptiert eine "derartige Aushöhlung des Staates Bundesrepublik Deutschland" nicht, wie er sich ausdrückt. Er erhebt gegen die Änderung des EGV umgehend Klage vor dem Bundesverfassungsgericht.
Frage 1: Ist die Klage des A zulässig?
Frage 2: Wäre die Klage des A begründet?
Lösungsskizze (keine ausführliche Formulierung):
A. Frage 1
Struktur zur Frage 1: http://80.237.160.189/taris/?path=0-0&subsumsession=0&root=149
Die Klage ist zulässig, wenn die Voraussetzungen für eine Sachentscheidung des Gerichts erfüllt sind. Hier kommt eine Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht in Betracht gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, §§ 90 ff. BVerfGG, sofern A gegen die Änderung des EGV keine andere Rechtsschutzmöglichkeit hat.
1. Beschwerdegegenstand
Wichtige Vorüberlegung: Wogegen will A vorgehen? Wenn er gegen die Änderung des EGV wörtlich vorgehen möchte, dann handelt es sich dabei um einen völkerrechtlichen Vertrag, der gemäß § 90 Abs. 1 BVerfGG nicht als Klagegegenstand in Betracht kommt - es ist kein Akt der (deutschen) öffentlichen Gewalt. Damit kann A einen völkerrechtlichen Vertrag vor einem deutschen Gericht nicht angreifen. Auch die Mitwirkung der deutschen Regierung bei Abschluss des Vertrages kann nicht angegriffen werden, weil ohne Ratifizierung eines völkerrechtlichen Vertrages dieser keine rechtliche Wirkung im Inland haben kann. Er kann aber gegen das Zustimmungsgesetz zur Änderung des EGV klagen, weil Gesetze als Klagegegenstand einiger Verfahren nach § 13 BVerfGG vorgesehen sind.
Da ein Rechtsschutz gegen völkerrechtliche Verträge vor deutschen Gerichten grundsätzlich nicht möglich ist, kommt hier ausschließlich eine Klage gegen das Zustimmungsgesetz zur Änderung des EGV in Betracht. Da A eine Privatperson ist, kann er grundsätzlich nur eine Verfassungsbeschwerde im Sinne des Art. 93 I 4) GG und § 13 Pkt. 8a) BVerfGG erheben.
Anschließend sind die übrigen Voraussetzungen der Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde zu prüfen:
2. Beschwerdefähigkeit
= natürliche Person grundsätzlich grundrechtsfähig (+)
3. Beschwerdebefugnis
geschützte Rechtsgüter = in Betracht kommen Art. 2 GG (allgemeines Freiheitsgrundrecht) und Art. 38 GG (Wahlrecht);
- Art. 2 GG - kann vor übermäßiger Besteuerung schützen, hier liegt aber eine reine Übertragung auf EG, keine konkrete Regelung vor; damit wäre zu prüfen, ob diese Übertragung dazu führen könnte, dass der Beschwerdeführer nicht mehr in seinem Freiheitsgrundrecht geschützt wäre (vgl. Maastricht-Entscheidung des BVerfG, BVerfGE 89, 155 ff.); nach der Rechtsprechung des BVerfG sind die Organe der EG aber an die deutschen Grundrechte gebunden; nach abweichender Meinung hat die EG einen eigenen Grundrechtsschutz, der Voraussetzung ist für Übertragung von Kompetenzen und Beteiligung der BRD an der EG/EU (Art. 23 GG); in jedem Falle aber büßt der Beschwerdeführer keine Rechte durch Übertragung der Steuerkompetenz ein, also ist ein Eingriff in Art. 2 GG nicht denkbar;
- Art. 38 GG - Wahlrecht zum Bundestag ist aber nicht betroffen; hier aber Maastricht: Art. 38 schütze nicht nur Wahlrecht zum BT, sondern auch den Inhalt dahinter, die Legitimation der Gewalt durch das Volk; Art. 38 GG enthalte das Recht des Einzelnen, Verwirklichung des Demokratieprinzips zu verlangen; dies wäre auch eigenes (steht jedem Bürger zu), durch Erlass des Zustimmungsgesetzes unmittelbar und gegenwärtig betroffenes Recht des Antragstellers; wenn der Antragsteller eine Verletzung des Art. 38 GG geltend macht, dann ist:
4. Erschöpfung des Rechtsweges / keine Subsidiarität
- Rechtsweg gegen Gesetze ist nicht möglich, also (+)
- bei der Frage der Subsidiarität könnte eine steuerliche Regelung der EG abgewartet werden und ein Steuerbescheid auf dieser Grundlage angegriffen werden; dies führt jedoch zu einer sehr verzögerten Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Zustimmungsgesetzes; auch allgemeines Interesse sprechen für frühzeitige Überprüfung (§ 90 II 2 BVerfGG), also auch Subsidiarität (+)
5. Formalien und Sonstiges
Folgende Anforderungen spielen nur dann eine Rolle, wenn der Sachverhalt einen ausdrücklichen Hinweis auf sie enthält und sind im Übrigen maximal zu erwähnen:
- Form und Frist - von der Richtigkeit der Form ist auszugehen (schriftlich und mit Begründung), Jahresfrist bei Gesetzen, Art. 93 III BVerfGG, hier OK;
- Prozessfähigkeit = §§ 51 ZPO, 62 VwGO; keine Anhaltspunkte, dass sie fehlt (volle Geschäftsfähigkeit)
- Zuständigkeit des Gerichts - am besten im Zusammenhang mit dem Beschwerdegegenstand und bei Nennung der einschlägigen Normen erwähnen, dass das Bundesverfassungsgericht für Verfassungsbeschwerden nach Art. 93 I Pkt. 4a) GG und § 13 Pkt. 8a) BVerfGG zuständig ist; sobald klar ist, dass eine Verfassungsbeschwerde geprüft wird, hat die Frage der Zuständigkeit keine selbständige Bedeutung, weil sie offensichtlich ist;
- Postulationsfähigkeit und ordnungsgemäße Vertretung, § 22 BVerfGG - es ist davon auszugehen, dass richtig;
6. Ergebnis
Es ist festzustellen, dass eine Verfassungsbeschwerde des A zulässig ist, sofern eine Verletzung des Art. 38 GG gerügt wird.
B. Frage 2
Die Klage des A wäre begründet, wenn er in den geltend gemachten Rechten unter Verstoß gegen die Verfassung verletzt ist.
- da hier Art. 38 GG als verletztes Recht in Betracht kommt, ist dieses zu prüfen;
- Aufbauhinweis: das grundrechtsgleiche Recht aus Art. 38 GG hat keine Schranken; insbesondere rechtfertigt Art. 38 Abs. 3 GG keine Eingriffe in das Wahlrecht!
- Art. 38 GG enthält nicht nur das Recht, an Wahlen teilzunehmen, sondern auch eine Garantie, dass die Wahlstimme auch "etwas wert ist"; es stellt sich die Frage, ob dieses Recht verletzt ist, wenn die komplette Steuerhoheit auf die EU/EG übergeht;
- es steht außer Frage, dass die Staatsgewalt nur dann wirksam ausgeübt werden kann, wenn sie mit finanziellen Mitteln ausgestattet ist, ihre Aufgaben wahrzunehmen; damit wäre der Entzug dem Bundestag der Steuerhoheit eine weitgehende Entwertung seiner Kompetenzen und damit der Wahlrechte der Bundesbürger;
- da das Demokratieprinzip der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG unterliegt, ist eine Abschaffung dieser Grundlage nicht zulässig (zumindest keine Kompensation der Demokratie auf europäischer Ebene vorgesehen ist; bei diesem Sachverhalt aber auch keine Kompensation vorgesehen);
vgl. ähnlicher Fall sehr ausführlich:
Falltext: http://www.saarheim.de/Faelle/vertraege-fall.htm
Falllösung: http://www.saarheim.de/Faelle/vertraege-loesung.htm
CategoryFallsammlungOeffR