Version [12679]
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Fallbeispiel 1 – Gitarrenklänge zum Geheißerwerb
Eigentumserwerb vom Berechtigten gem. § 929 S. 1; Übergabe und Geheißerwerb
A. Sachverhalt
Der Misanthrop Dr. H, Spezialist seines Faches und bekennender Musikliebhaber möchte seine Arbeitskollegen gern mit ein paar selbst gespielten Rocksongs beglücken. Um die beabsichtigte Wirkung (Schikane durch ohrenbetäubende Lautstärke) zu erzielen, interessiert er sich seit längerer Zeit für die im Eigentum seines Freundes Dr. W befindliche E-Gitarre (Modell Gibson Flying V). Nach vier Wochen des unnachgiebigen Drängens gibt W endlich nach und verkauft ihm die Gitarre. Beide einigen sich hinsichtlich des Eigentumsübergangs und W bittet seine Freundin A, der er die Gitarre geliehen hat, diese am Ende der Leihfrist nicht ihm zurückzugeben, sondern gleich H auszuhändigen. A kommt der Bitte des W nach, d. h. sie tut wie ihr geheißen.
B. Frage
Fraglich ist, ob Dr. H Eigentum erworben hat?
C. Lösung
1. Grafische Skizze
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2. Lösungsskizze
Eigentumserwerb des Dr. H?
I. Eigentumserwerb des Dr. H von W nach § 929 S. 1?
= Erwerb des H vom Berechtigten E
1. Einigung über den Eigentumsübergang
= dingliche Einigung ist ein Vertrag zwischen Veräußerer und Erwerber, der drauf abzielt, den Eigentumswechsel herbeizuführen (Eigentumsübergang)
HIER (+)
2. Übergabe
= beidseitig gewollte Übertragung des Besitzes vom Veräußerer auf den Erwerber; Veräußerer verliert Besitz, Erwerber erlangt Besitz
HIER (+)
- Praktische Erwägung: die Übergabe muss nicht direkt (unmittelbar) vom Veräußerer an den Erwerber gegeben werden
- der unmittelbare Besitz kann auch von einem Dritten auf Anweisung/Geheiß des Veräußerers auf den Erwerber übertragen werden
- Hier: Übertragung des Besitzes auf Geheiß des Veräußerers W auf den Erwerber H durch eine Geheißperson (= Dritte A, die nicht Besitzdiener oder Besitzmittler ist)
3. Einigsein von Veräußerer und Erwerber im Zeitpunkt der Übergabe
= keine der abgegebenen WEen darf widerrufen worden sein (Einigung ist nach h.M. bis zur Übergabe frei widerruflich)
HIER (+); kein Widerruf
4. (Verfügungs-)Berechtigung des Veräußerers
= verfügungsbefugt ist Eigentümer oder der Nichteigentümer, welcher gesetzlich oder vom Berechtigten ermächtigt wurde
HIER (+); W ist verfügungsbefugter Eigentümer der Gitarre
5. Zwischenergebnis: Eigentumserwerb des Dr. H vom Berechtigten W nach § 929 S. 1 gegeben
II. Ergebnis: Eigentumserwerb des Dr. H nach § 929. S. 1 (+)
D. Formulierungsvorschlag ("Abgespeckte Kurzversion")
Dr. H könnte Eigentum an der Gitarre erworben haben.
I. In Frage kommt der Eigentumserwerb des Dr. H vom Berechtigten W gemäß § 929, S. 1 BGB.
1. Die Parteien (W und Dr. H) haben sich wirksam über den Eigentumsübergang geeinigt.
2. Fraglich und deshalb zu beurteilen ist, ob die erforderliche Übertragung i. S. d. § 929, S. 1 erfolgt ist. Hierzu müsste der Veräußerer den Besitz an der Gitarre verlieren und der Erwerber den Besitz an der Gitarre erlangen. Dem Interesse des Wirtschaftsverkehrs entsprechend, muss die Übergabe nicht unmittelbar im Verhältnis Veräußerer – Erwerber erfolgen. Stattdessen kann der unmittelbare Besitz auch von einem Dritten auf Anweisung, d. h. auf Geheiß des Veräußerers auf den Erwerber übertragen werden (Übertragung durch eine Geheißperson). Die Dritte A überträgt den Besitz an der Gitarre auf Geheiß des Veräußerers W direkt auf den Erwerber Dr. H. Dadurch hat der Veräußerer W den Besitz verloren und der Erwerber Dr. H den Besitz an der Gitarre erlangt. Die Übergabe der Sache i. S. d. § 929, S. 1 ist demnach zu bejahen.
3. Auch im Zeitpunkt der Übergabe waren sich die Parteien noch einig.
4. Ferner war der ursprüngliche Eigentümer W verfügungsbefugt, also Berechtigter.
5. Folglich hat Dr. H vom Berechtigten W nach § 929, S. 1 wirksam Eigentum erworben.
II. Es liegt ein Eigentumserwerb des Dr. H vor. Schwerpunktproblem des Falls
Im Fall "Gitarrenklänge zum Geheißerwerb" galt es die Geheißperson zu erkennen. Beim sog. Geheißerwerb hat die Rechtsprechung und Literatur eine gesetzlich nicht geregelte weitere Übergabemöglichkeit anerkannt. Auch hier übergibt und empfängt ein Dritter (Geheißperson) die Sache auf Weisung des Veräußerers (oder Erwerbers), wobei der Dritte hier nicht als Besitzdiener (§ 855 BGB) oder Besitzmittler (§ 868 BGB) fungiert. Praktische Relevanz hat der Geheißerwerb insbesondere bei sog. Kettengeschäften. Insofern wird drauf verzichtet, dass auch der dritte oder vierte Besitzmittler sein muss. Vielmehr soll es genügen, wenn auf der Veräußer(Erwerber-)erseite die Geheißperson auf Weisung des Veräußerers (bzw. Erwerbers) die Sache übergibt (bzw. empfängt). Allein durch die Befolgung dieser Anweisung wird nach außen dokumentiert, dass der Anweisende i. S. d. Besitzübertragung die tatsächliche Herrschaft über die Sache ausüben kann. Diesen Umstand lässt die Rechtsprechung regelmäßig für eine Übertragung i. S. d. § 929 S. 1 genügen.