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Fallbeispiel: Interimsregierung
A. Sachverhalt
Kurz vor Ende der Legislaturperiode stirbt der Bundeskanzler in einem Unfall. Trotz mehrerer Versuche des Bundestages, eine neue Regierung zu bilden, ist nach drei Monaten und nur kurz vor der neuen Wahl kein neuer Kanzler gewählt.
Darauf schreitet der Bundespräsident ein und bestimmt den bisherigen Finanzminister (und nicht den Stellvertreter des Bundeskanzlers, den bisherigen Außenminister), die Geschäfte der Bundesregierung interimsweise zu übernehmen. Auf Ersuchen des nunmehr geschäftsführenden Bundeskanzlers bittet der Bundespräsident alle Minister, ihre Geschäfte ebenfalls weiterzuführen.
Die geschäftsführende Regierung beschließt einen Gesetzesvorschlag zum kompletten Umbau des Steuersystems, der bereits weitgehend vorbereitet war und nur noch beschlossen werden sollte. Die Opposition wehrt sich gegen ein solches Vorgehen. Sie erwägt, alle Vorgänge rechtlich anzugreifen.
Frage:
Ist der Kabinettsbeschluss (Gesetzesvorschlag zum Steuerrecht) nichtig? Wie ist der Kabinettsbeschluss zu bewerten?
B. Lösungsskizze
Die Frage wirft hier eine besonders sorgfältige Differenzierung zwischen unterschiedlichen Rechtsfolgen von Fehlern eines Hoheitsaktes. Es reicht hier nicht, zu prüfen, ob der Kabinettsbeschluss an sich bzw. die ihm vorgelagerten Handlungen rechtmäßig bzw. insgesamt ordnungsgemäß waren. Vielmehr verlangt die Fragestellung an mehreren Stellen eine Auseinandersetzung mit der Frage, wann eine Handlung nichtig (ungültig, unwirksam) ist, also keine rechtlichen Folgen entfaltet, und wann der Fehler nur im entsprechenden Verfahren geltend gemacht werden kann, vorerst aber die betroffene Handlung als wirksam zu behandeln ist.
Der Kabinettsbeschluss ist in jedem Falle dann wirksam, wenn er durch eine ordnungsgemäß berufene Bundesregierung im ordnungsgemäßen Verfahren ohne Rechtsverstöße gefasst wurde. Sollte die Berufung der Regierung rechtswidrig (verfassungswidrig) sein, ist darüber hinaus die Frage zu beantworten, inwiefern sich die Fehler bei der Bestellung der Regierung auf die Wirksamkeit des Kabinettsbeschlusses auswirken können.
Also:
- Kabinettsbeschluss in jedem Falle wirksam, wenn Kabinett wirksam bestellt und korrekt gehandelt;
- sofern Kabinettsbildung nicht richtig - es kommt auf die Rechtsfolge des Fehlers an
1. Rechtmäßigkeit der Bestellung des Interimskanzlers / der Interimsregierung
Die Bestellung des geschäftsführenden Bundeskanzlers war recht- und verfassungsmäßig, wenn der Bundespräsident dazu berechtigt war und - sofern dies der Fall war - die Berechtigung, den geschäftsführenden Kanzler zu bestellen, in richtiger Weise wahrgenommen hat.
Es ist also eine Organhandlung des Bundespräsidenten zu bewerten, vgl. folgenden Strukturbaum, konkret: Bestellung des Kanzlers und der Regierung im besonderen Fall für eine Übergangszeit.
In dieser Hinsicht ist Folgendes festzustellen:
- eine ausdrückliche Regelung für den Todesfall ist nicht vorgesehen, Art. 69 Abs. 1 GG greift nicht, weil der stellvertretende Kanzler mit dem Tod des Kanzlers keiner Regierung angehört;
- analog Grundlage kann allerdings Art. 69 Abs. 3 GG sein,
- der Bundespräsident darf für den Fall des Todes des Bundeskanzlers einen Interimskanzler benennen,
- allerdings ist der Spielraum auf den bisherigen stellvertretenden Kanzler beschränkt.
Damit war der Bundespräsident berechtigt, einen geschäftsführenden Kanzler zu benennen. Er war allerdings verpflichtet, dafür den bisherigen Stellvertreter zu bestellen. Damit war die Bestellung verfassungswidrig.
Die einzelnen Voraussetzungen wurden in der folgenden Gesamtstruktur erfasst.
2. Auswirkung auf die Nachfolgenden Handlungen der (Interims-)Regierung.
Sofern die Verfassungswidrigkeit der Benennung des Interimskanzlers auch ihre Unwirksamkeit (Nichtigkeit) zur Folge hatte, so würde bei der Regierungsbildung und bei den anschließenden Maßnahmen nicht der Kanzler handeln, sondern eine Person, die nur vorgab, Kanzler zu sein. Deshalb kommt es hier darauf an, ob die Benennung des Finanzministers zum Kanzler nichtig war und keine Wirkung entfaltet.
Bei Hoheitsakten ist nach allgemeinen, im gesamten öffentlichen Recht geltenden Regeln zu unterscheiden:
- abstrakt-generelle Akte sind bei Fehlern grundsätzlich nichtig,
- Einzelmaßnahmen sind bei Fehlern grundsätzlich wirksam und nur aufhebbar.
Bei der Bestellung des Kanzlers (Einzelmaßnahme) ist also nur ausnahmsweise denkbar, dass der Vorgang unwirksam war - Prüfung gemäß dem Strukturbaum. Demnach nur ausnahmsweise (offensichtliche und schwerwiegende Fehler - weil ungeschrieben, eher nicht offensichtlich).
3. Ergebnis
Die Ernennung des Finanzministers an Stelle des Außenministers (als früheren stellvertretenden Kanzlers) zum Interimskanzler war verfassungswidrig. Dies hatte allerdings keine Folgen für die Wirksamkeit der darauf folgenden Maßnahmen der Interimsregierung, weil dadurch keine Nichtigkeit der Benennung anzunehmen ist.
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