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Thüringer Bauordnung [ThürBO]

Kommentar Prof. Dr. Sven Müller-Grune



§ 76
Bauaufsichtliche Zustimmung




(1) Nicht verfahrensfreie Bauvorhaben bedürfen keiner Genehmigung, Genehmigungsfreistellung und Bauüberwachung, wenn

1. der Bauherr die Leitung der Entwurfsarbeiten und der Bauüberwachung einer Baudienststelle des Bundes oder der Länder übertragen hat und

2. die Baudienststelle mit Beamten des höheren technischen Verwaltungsdienstes der Fachrichtung Hochbau oder Bauingenieurwesen oder diesen gleichgestellten Bediensteten mit entsprechender Vorbildung besetzt ist, die über die erforderlichen Kenntnisse der Bautechnik, der Baugestaltung und des öffentlichen Baurechts verfügen.

Solche baulichen Anlagen bedürfen jedoch der Zustimmung der oberen Bauaufsichtsbehörde. Außer bei der Errichtung und Änderung von Sonderbauten entfällt die Zustimmung, wenn die Gemeinde nicht widerspricht und, soweit ihre öffentlich-rechtlich geschützten Belange von Abweichungen, Ausnahmen und Befreiungen berührt sein können, die Nachbarn dem Vorhaben zustimmen. Satz 3 gilt nicht für bauliche Anlagen, für die nach § 69 Abs. 5 eine Öffentlichkeitsbeteiligung durchzuführen ist.

(2) Der Antrag auf Zustimmung ist bei der oberen Bauaufsichtsbehörde einzureichen.

(3) Die obere Bauaufsichtsbehörde prüft

1. die Übereinstimmung mit den Bestimmungen über die Zulässigkeit der baulichen Anlagen nach den §§ 29 bis 38 BauGB und

2. andere öffentlich-rechtliche Anforderungen, soweit wegen der Zustimmung eine Entscheidung nach anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften entfällt oder ersetzt wird.

Sie führt bei den in Absatz 1 Satz 4 genannten Anlagen die Öffentlichkeitsbeteiligung nach § 69 Abs. 5 durch. Eine Prüfung bautechnischer Nachweise findet nicht statt. Über Ausnahmen, Befreiungen und Abweichungen entscheidet die obere Bauaufsichtsbehörde im Zustimmungsverfahren.

(4) Die Gemeinde ist vor Erteilung der Zustimmung zu hören. § 36 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 BauGB gilt entsprechend. Im Übrigen sind die Vorschriften über das Baugenehmigungsverfahren entsprechend anzuwenden.

(5) Anlagen, die der Landesverteidigung, dienstlichen Zwecken der Bundespolizei oder dem zivilen Bevölkerungsschutz dienen, sind abweichend von den Absätzen 1 bis 4 der oberen Bauaufsichtsbehörde vor Baubeginn in geeigneter Weise zur Kenntnis zu bringen; Absatz 1 Satz 3 gilt entsprechend. Im Übrigen wirken die Bauaufsichtsbehörden nicht mit. § 75 Abs. 2 bis 10 findet auf Fliegende Bauten, die der Landesverteidigung, dienstlichen Zwecken der Bundespolizei oder dem zivilen Bevölkerungsschutz dienen, keine Anwendung.

(6) Der öffentliche Bauherr trägt die Verantwortung, dass Entwurf, Ausführung und Zustand der baulichen Anlagen sowie anderer Anlagen und Einrichtungen im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 2 den öffentlich-rechtlichen Vorschriften entsprechen.












Kommentierung







A. Normgeschichte







1. Historie







2. Gesetzesbegründung


2014

Nach Absatz 1 ist für Baumaßnahmen, die durch staatliche Baudienststellen betreut werden anstelle des sonst üblichen bauaufsichtlichen Verfahrens das Zustimmungsverfahren durchzuführen. Gegenüber sonstigen Bauvorhaben sind Erleichterungen möglich, da grundsätzlich erwartet werden kann, dass der Bund beziehungsweise das Land bei seinen eigenen Baumaßnahmen die von ihm selbst geschaffenen Gesetze einhält.

Satz 1 regelt die Anwendungsvoraussetzungen. Danach kommt es nicht darauf an, wer Bauherr ist, sondern darauf, dass die Leitung der Entwurfsarbeiten und die Bauüberwachung einer Baudienststelle übertragen ist und diese Baudienststelle über dafür qualifiziertes Personal verfügt. Nicht ausreichend wäre dagegen, wenn die Baudienststelle im Wesentlichen nur die haushaltsrechtliche Abwicklung übernimmt.

Nach Satz 3 entfällt die Zustimmung, wenn die Gemeinde nicht widerspricht und, soweit ihre öffentlich-rechtlich geschützten Belange von Abweichungen, Ausnahmen und Befreiungen berührt sein können, die Nachbarn dem Vorhaben zustimmen. Diese Regelung einer besonderen Verfahrensfreiheit beruht auf der Erwägung, dass die Zustimmung als Verwaltungsakt - nämlich als Einzelfallregelung mit Außenwirkung - nur dann erforderlich ist, wenn ihr eine gleichsam streitentscheidende Funktion zukommt. Daran fehlt es, wenn sich im konkreten Fall weder die Gemeinde in ihrer Planungshoheit noch die Nachbarn in ihren öffentlich-rechtlich geschützten Belangen beeinträchtigt fühlen und dies schlüssig (die Gemeinde) beziehungsweise ausdrücklich (die Nachbarn) erklären. In diesen Fällen trägt die Baudienststelle abschließend die alleinige Verantwortung für die materielle Rechtmäßigkeit der Anlage. Die Zustimmung reduzierte sich dann auf ein bloßes funktionsloses Internum. Diese besondere Verfahrensfreiheit soll aber bei der Errichtung und Änderung von Sonderbauten nicht gelten, da diese für ihren Nutzer ein erhebliches Gefährdungspotenzial aufweisen, das die Beibehaltung des Vieraugenprinzps rechtfertigt.

Nach Absatz 2 ist der Antrag auf Zustimmung bei der oberen Bauaufsichtbehörde einzureichen.

Absatz 3 bestimmt das Prüfprogramm im Zustimmungsverfahren. Dieses Prüfprogramm wird in Satz 1 in Anlehnung an das vereinfachte Genehmigungsverfahren nach § 62 Abs. 1 Satz 1 ausgestaltet, allerdings erstreckt auf alle dem Zustimmungsverfahren unterliegenden Bauvorhaben. Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass die die Qualifikationsanforderungen nach Absatz 1 Satz 1 erfüllende Baudienststelle in der Lage sein muss, insbesondere das Bauordnungs‑, aber auch das sonstige auf das Bauvorhaben anwendbare öffentliche Recht (soweit es nicht als "aufgedrängtes" öffentliches Recht von Nummer 2 erfasst wird), zu erkennen und ordnungsgemäß anzuwenden, ggf. unter Zuhilfenahme von Fachbehörden. Entsprechend bestimmt Satz 2, dass die bautechnischen Nachweise der Standsicherheit und des Brandschutzes nicht geprüft werden. Insoweit hat die Baudienststelle ebenfalls die alleinige Verantwortung für die Einhaltung des materiellen Rechts. Nach Satz 3 wird aber über Ausnahmen, Befreiungen und Abweichungen durch die Zustimmungsbehörde entschieden, da insoweit auch nachbarliche Belange zu berücksichtigen sind.

Absatz 4 Satz 1 regelt die mit Blick auf ihre Planungshoheit erforderliche Anhörung der Gemeinde vor Erteilung der Zustimmung. Satz 2 erklärt § 36 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 BauGB für entsprechend anwendbar, um einen zeitlichen und sachlichen Gleichlauf zwischen der Fiktionsfrist für das gemeindliche Einvernehmen und der Äußerung der Gemeinde im Übrigen herzustellen; sofern die Gemeinde bereits die Fiktionsfrist für das Einvernehmen hat verstreichen lassen, soll damit auch die Gelegenheit zur Äußerung im Übrigen erschöpft sein. Satz 3 erklärt im Übrigen die Vorschriften über das Baugenehmigungsverfahren für entsprechend anwendbar.

Absatz 5 regelt das Kenntnisgabeverfahren, das bei Anlagen, die der Landesverteidigung, dienstlichen Zwecken der Bundespolizei oder dem zivilen Bevölkerungsschutz dienen, an Stelle des Zustimmungsverfahrens durchzuführen ist. Bei diesen Bauvorhaben sind nicht generell umfassende Unterlagen einzureichen. Vielmehr beschränkt sich die Einbeziehung der oberen Bauaufsichtsbehörde auf die Kenntnisgabe "in geeigneter Weise". Was darunter zu verstehen ist, ergibt sich aus dem jeweiligen Geheimhaltungsbedürfnis und dem Berührtsein anderer öffentlicher Belange. Aufgrund des Verweises auf Absatz 1 Satz 3 entfällt das Kenntnisgabeverfahren, wenn die Gemeinde der Errichtung der in Absatz 5 genannten Anlagen nicht widerspricht. Dies liegt darin begründet, dass das Kenntnisgabeverfahren dem Zweck dient, beim Widerspruch der Gemeinde die Inhalte des § 37 BauGB zu transportieren, und die Regelung somit in Fällen, in denen die Gemeinde dem Vorhaben nicht widerspricht, obsolet ist.

Absatz 6 stellt klar, dass der öffentliche Bauherr nicht nur für die Rechtmäßigkeit der Planung die Verantwortung trägt, sondern diese Verantwortung auch für die Bauphase und den Zeitraum der Nutzung nach Fertigstellung der Anlage gilt.





2016

Bei den nach Artikel 13 der Richtlinie 2012/18/EU schutzbedürftigen Bauvorhaben kann es sich auch um Baumaßnahmen handeln, für die nach § 76 ein Zustimmungsverfahren durchzuführen ist. Es ist auch bei diesen Bauvorhaben sicherzustellen, dass sowohl eine bauplanungsrechtliche Prüfung als auch die nach Artikel 15 der Richtlinie 2012/18/EU erforderliche Öffentlichkeitsbeteiligung durchgeführt wird.

Zu Buchstabe a:

Nach § 76 Abs. 1 Satz 3 soll das Zustimmungsverfahren entfallen, wenn die Gemeinde nicht widerspricht und, soweit ihre öffentlich-rechtlich geschützten Belange von Abweichungen, Ausnahmen und Befreiungen berührt sein können, die Nachbarn dem Bauvorhaben zustimmen. Damit entfällt auch die Prüfung der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit eines Vorhabens nach Absatz 3 Nr. 1.

Durch die Bezugnahme auf § 69 Abs. 5 wird sichergestellt, dass für alle Bauvorhaben, die dem Schutzzweck des Artikel 13 der Richtlinie 2012/18/ EU unterfallen, ein Verfahren stattfindet, in dem die bauplanungsrechtliche Prüfung erfolgt.

Zu Buchstabe b:

In der Regelung wird das Landesverwaltungsamt als zuständige Behörde für die Durchführung der nach Artikel 15 der Richtlinie 2012/18/EU erforderlichen Öffentlichkeitsbeteiligung bestimmt. Das ist sachgerecht, weil die Öffentlichkeitsbeteiligung Erkenntnisse für die bauplanungsrechtliche Bewertung des Vorhabens liefern kann.

Zu Nummer 4:

Redaktionelle Anpassung der Inhaltsübersicht hinsichtlich Artikel 1 Nr. 2 Buchst. a


3. Verwaltungsvorschrift


76.1 Soweit die Voraussetzungen des Absatzes 1 S. 1 erfüllt sind, findet das Zustimmungsverfahren bei der Errichtung oder Änderung von Sonderbauten immer statt. Bei anderen Bauvorhaben entfällt das Zustimmungsverfahren, wenn
- die Gemeinde dem Vorhaben nicht widerspricht und
- die Nachbarn einer evtl. erforderlichen Abweichung, Ausnahme oder Befreiung von nachbarschützenden Vorschriften zugestimmt haben.

76.3 Das Prüfprogramm entspricht dem des vereinfachten Genehmigungsverfahrens nach § 62. Danach ist das sog. „aufgedrängte“ Fachrecht eingeschlossen. Bautechnische Nachweise müssen nicht vorgelegt werden, sofern sie nicht für Abweichungsentscheidungen notwendig sind.

76.4 Die Anhörung der Gemeinde stellt sicher, dass diese rechtzeitig über Maßnahmen der Sicherung der Bauleitplanung entscheiden kann. Sie ist keine Abfrage fachlicher Einzelanforderungen der durch die Gemeinde beteiligten Ämter.

76.5 Das Kenntnisgabeverfahren entfällt, wenn die Gemeinde der Errichtung der genannten Anlagen nicht widerspricht. Eine Nachbarbeteiligung findet nicht statt. Die dienende Funktion der betreffenden Anlagen setzt nicht deren zwingende Erforderlichkeit voraus. Der Umfang der zur Kenntnis zu bringenden Unterlagen muss eine Beurteilung der baurechtlichen Tragweite und Bedeutung des Bauvorhabens erlauben. Insbesondere müssen daraus die Übereinstimmung des Vorhabens mit dem materiellen Bauplanungsrecht und das Vorliegen des gemeindlichen Einvernehmens hervorgehen. Die Beachtlichkeit des materiellen (Bauordnungs-) Rechts bleibt unberührt.



B. Normauslegung


















Zitiervorschlag:
Müller-Grune Sven, Kommentar zur Thüringer Bauordnung, Schmalkalden 2017, § 76.





© Prof. Dr. Sven Müller-Grune





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