Thüringer Bauordnung [ThürBO]
Kommentar Prof. Dr. Sven Müller-Grune
§ 61 Genehmigungsfreistellung |
(1) Keiner Genehmigung bedarf unter den Voraussetzungen des Absatzes 2 die Errichtung, Änderung und Nutzungsänderung von
1.
Wohngebäuden der Gebäudeklassen 1 bis 3,
2.
sonstigen Gebäuden der Gebäudeklassen 1 und 2,
3.
sonstigen Anlagen, die keine Gebäude sind,
4.
Nebengebäuden und Nebenanlagen zu Vorhaben nach den Nummern 1 bis 3,
ausgenommen Sonderbauten und Anlagen, die einer Pflicht zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung oder einer Vorprüfung nach dem Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVPG) vom 20. November 2015 (BGBl. I S. 2053) in der jeweils geltenden Fassung oder dem Thüringer Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung (ThürUVPG) vom 20. Juli 2007 (GVBl. S. 85) in der jeweils geltenden Fassung unterliegen. Satz 1 gilt nicht für die Errichtung, Änderung oder Nutzungsänderung
1.
eines oder mehrerer Gebäude, wenn dadurch dem Wohnen dienende Nutzungseinheiten mit einer Größe von insgesamt mehr als 5.000 m² Brutto-Grundfläche geschaffen werden, und
2.
baulicher Anlagen, die öffentlich zugänglich sind, wenn dadurch die gleichzeitige Nutzung durch mehr als 100 zusätzliche Besucher ermöglicht wird,
die innerhalb eines vom Landesamt für Umwelt, Bergbau und Naturschutz bekannt gemachten Abstands um einen Betriebsbereich im Sinne des § 3 Abs. 5a des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (BImSchG) in der Fassung vom 17. Mai 2013 (BGBl. I S. 1274) in der jeweils geltenden Fassung liegen, es sei denn, die Immissionsschutzbehörde hat aufgrund ihr vorliegender Kenntnisse mitgeteilt, dass sich das Vorhaben außerhalb des Sicherheitsabstands des Betriebsbereichs im Sinne des § 50 BImSchG befindet. Bei der Festlegung des Abstands nach Satz 2 sind insbesondere die im Betriebsbereich verwendeten Stoffe, die Art des Umgangs mit diesen Stoffen, Gegebenheiten der unmittelbaren Umgebung und repräsentative Szenarien eines schweren Unfalls zu berücksichtigen.
(2) Nach Absatz 1 ist ein Bauvorhaben genehmigungsfrei gestellt, wenn
1.
es im Geltungsbereich eines Bebauungsplans im Sinne des § 30 Abs. 1 oder der §§ 12, 30 Abs. 2 BauGB liegt,
2.
es den Festsetzungen des Bebauungsplans nicht widerspricht,
3.
die Erschließung im Sinne des Baugesetzbuchs gesichert ist und
4.
die Gemeinde nicht innerhalb der Frist nach Absatz 3 Satz 2 erklärt, dass das vereinfachte Genehmigungsverfahren durchgeführt werden soll, oder eine vorläufige Untersagung nach § 15 Abs. 1 Satz 2 BauGB beantragt.
(3) Der Bauherr hat die erforderlichen Unterlagen bei der Gemeinde einzureichen; die Gemeinde legt, soweit sie nicht selbst Bauaufsichtsbehörde ist, eine Fertigung der Unterlagen unverzüglich der unteren Bauaufsichtsbehörde vor. Mit dem Vorhaben darf einen Monat nach Vorlage der erforderlichen Unterlagen bei der Gemeinde begonnen werden. Teilt die Gemeinde dem Bauherrn vor Ablauf der Frist schriftlich mit, dass kein Genehmigungsverfahren durchgeführt werden soll und sie eine Untersagung nach § 15 Abs. 1 Satz 2 BauGB nicht beantragen wird, darf der Bauherr mit der Ausführung des Vorhabens beginnen. Von der Mitteilung nach Satz 3 hat die Gemeinde die Bauaufsichtsbehörde zu unterrichten. Will der Bauherr mit der Ausführung des Bauvorhabens mehr als drei Jahre, nachdem die Bauausführung nach Sätzen 2 und 3 zulässig geworden ist, beginnen, gelten die Sätze 1 bis 4 entsprechend.
(4) Die Erklärung der Gemeinde nach Absatz 2 Nr. 4, dass das vereinfachte Genehmigungsverfahren durchgeführt werden soll, kann insbesondere deshalb erfolgen, weil sie eine Überprüfung der sonstigen Voraussetzungen des Absatzes 2 oder des Bauvorhabens aus anderen Gründen für erforderlich hält. Darauf, dass die Gemeinde von ihrer Erklärungsmöglichkeit keinen Gebrauch macht, besteht kein Rechtsanspruch. Erklärt die Gemeinde, dass das vereinfachte Baugenehmigungsverfahren durchgeführt werden soll, hat sie dem Bauherrn die vorgelegten Unterlagen zurückzureichen. Hat der Bauherr bei der Vorlage der Unterlagen bestimmt, dass seine Vorlage im Fall der Erklärung nach Absatz 2 Nr. 4 als Bauantrag zu behandeln ist, leitet sie die Unterlagen gleichzeitig mit der Erklärung an die Bauaufsichtsbehörde weiter.
(5) § 65 bleibt unberührt. § 67 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 4 Satz 1 und 2 sowie § 71 Abs. 6 bis 8 sind entsprechend anzuwenden.
Quelle
Kommentierung |
A. Normgeschichte
1. Historie/Gesetzesbegründung
2014 (G.v.25.03.2014 - GVBL. 2014, 49)
Das Genehmigungsfreistellungsverfahren sieht keine präventive Befassung der Bauaufsichtsbehörde mit dem Bauvorhaben vor, sondern allein eine Einschaltung der Gemeinde, die im Interesse insbesondere des Schutzes ihrer Planungshoheit das Bauvorhaben in ein Genehmigungsverfahren "überleiten" kann. Die Bauaufsichtsbehörde erhält durch die Übermittlung der Unterlagen lediglich Kenntnis von einer Bauabsicht, ohne dass sie tätig werden müsste.Absatz 1 regelt den gegenständlichen Anwendungsbereich der Genehmigungsfreistellung. Es handelt sich dabei um Gebäude und andere Anlagen, die üblicherweise ein geringeres Gefahrenpotential aufweisen und im Allgemeinen kaum über das Baurecht hinaus weitere Rechtsgebiete berühren. Generell ausgenommen werden Sonderbauten, da diese nicht nur mit einem erhöhten Gefahrenpotential verbunden sind, sondern sich vor allem die materiellen Anforderungen regelmäßig nicht unmittelbar aus einer gesetzlichen Regelung ergeben, sondern nach § 51 jeweils bezogen auf das konkrete Bauvorhaben bestimmt werden. Anlagen, die einer Pflicht zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung oder einer Vorprüfung nach dem Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung oder dem Thüringer Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung unterliegen, werden ausgenommen, da für die Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung ein "Trägerverfahren" erforderlich ist. Für diese Anlagen kommt auch kein vereinfachtes Baugenehmigungsverfahren nach § 62 in Betracht, da sowohl die Vorprüfung der Umweltverträglichkeitsprüfungspflicht als auch die Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung einen Zeitaufwand erfordert, der mit dem gewollten Beschleunigungszweck nicht vereinbar ist.
Absatz 2 bestimmt die Voraussetzungen, unter denen die Bauvorhaben nach Absatz 1 genehmigungsfrei sind.
Das Bauvorhaben muss nach Nummer 1 im Geltungsbereich eines qualifizierten (§ 30 Abs. 1 BauGB) oder eines vorhabenbezogenen Bebauungsplans (§§ 12, 30 Abs. 2 BauGB) liegen. Geprüft worden ist, den Anwendungsbereich der Genehmigungsfreistellung über den qualifiziert beplanten auf den nicht beplanten Innen- (§ 34 BauGB) und den Außenbereich (§ 35 BauGB) auszuweiten unter der Voraussetzung, dass die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Bauvorhabens durch Vorbescheid (§ 74) festgestellt worden ist. Davon wird mit Rücksicht darauf Abstand genommen, dass die sachlich für die Genehmigungsfreistellung in Betracht kommenden Bauvorhaben im Falle ihrer Genehmigungsbedürftigkeit im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren (§ 62) zu behandeln sind. Dessen Prüfprogramm beschränkt sich aber in der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle gerade auf die Feststellung der planungsrechtlichen Zulässigkeit des Bauvorhabens, sodass ein sachlicher Vorteil auch für den Bauherrn nicht erkennbar ist.
Nach Nummer 2 darf das Bauvorhaben den Festsetzungen des Bebauungsplans nicht widersprechen, muss also ohne Ausnahmen (§ 31 Abs. 1 BauGB) und Befreiungen (§ 31 Abs. 2 BauGB) zulässig sein. Erwogen worden ist, in den Anwendungsbereich auch ausnahme- beziehungsweise befreiungsbedürftige Bauvorhaben einzubeziehen, sei es durch das Erfordernis eines vorab, die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit feststellenden Vorbescheids, sei es durch eine ebenfalls vorab zu fordernde isolierte Ausnahme oder Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans. Auch dieser Ansatz ist mit Rücksicht auf das im Kern auf die planungsrechtliche Zulässigkeit beschränkte Prüfprogramm des vereinfachten Baugenehmigungsverfahrens nicht weiter verfolgt worden, neben dem solche Lösungen keinen nennenswerten praktischen Nutzen brächten.
Nummer 3 fordert, angelehnt an die tatbestandlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 30 Abs. 1 BauGB, dass die bauplanungsrechtliche Erschließung gesichert sein muss.
Nach Nummer 4 schließlich darf die Gemeinde nicht innerhalb der Monatsfrist nach Absatz 3 Satz 2 erklärt haben, dass das vereinfachte Genehmigungsverfahren durchgeführt werden soll, oder eine vorläufige Untersagung nach § 15 Abs. 1 Satz 2 BauGB beantragt haben. Zwar würde die zweite Alternative für die Umsetzung der mit § 36 Abs. 1 Satz 3 BauGB in Zusammenhang stehenden bundesrechtlichen Vorgabe des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauGB - gewissermaßen als Minimalschutz der gemeindlichen Planungshoheit - ausreichen. Jedoch erscheint es angezeigt, der Gemeinde daneben und unabhängig davon die Möglichkeit einzuräumen, das Bauvorhaben in das vereinfachte Baugenehmigungsverfahren "umzusteuern". Denn es sind vielfältige Konstellationen denkbar, in denen es sinnvoll ist, zwischen der Gemeinde und dem Bauherrn auftretende Meinungsverschiedenheiten im Wege der Durchführung des vereinfachten Baugenehmigungsverfahrens zu entscheiden, etwa bei unterschiedlicher Beurteilung der Plankonformität des Vorhabens, zumal dann, wenn eine kleinere und leistungsschwächere Gemeinde schwierigere planungsrechtliche Fragen nicht rechtssicher beurteilen kann.
Absatz 3 regelt Verfahrensfragen der Genehmigungsfreistellung.
Satz 1 schreibt die Einreichung der erforderlichen Unterlagen bei der Gemeinde vor. Welche hierbei gemeint sind, ergibt sich aus der Thüringer Bauvorlagenverordnung. Die Gemeinde hat eine Fertigung der Unterlagen unverzüglich der Bauaufsichtsbehörde, sofern sie dies nicht selbst ist, vorzulegen. Die Bauaufsichtsbehörde entscheidet eigenständig, wie sie mit diesen Unterlagen umgeht. Eine Verpflichtung zur Überprüfung der Unterlagen auf Vollständigkeit oder inhaltliche Richtigkeit besteht nicht. Ebenfalls entbehrlich ist eine gesonderte Regelung einer Einschreitensfrist, weil deren Ablauf auch beim Anzeigeverfahren für den Bauherrn keinen Vertrauensschutz schaffen würde.
Satz 2 regelt die mit dem Eingang der (vollständigen erforderlichen) Unterlagen bei der Gemeinde beginnende Monatsfrist, nach deren Ablauf der Bauherr (unter diesem Aspekt) formell legal mit der Bauausführung beginnen kann. Die Gemeinde kann diese Frist dadurch abkürzen und dem Bauherrn einen früheren Baubeginn ermöglichen, dass sie ihm nach Satz 3 vor Fristablauf schriftlich mitteilt, dass sie von den Möglichkeiten des Absatzes 2 Nr. 4 keinen Gebrauch machen wird.
Die Einbindung der Gemeinde in die Genehmigungsfreistellung soll unter anderem die "Anstoßwirkung" sichern, die ein Bauvorhaben für etwaige planerische Absichten der Gemeinde haben kann. Diesen Anstoß kann das Instrument des Absatzes 3 Satz 1 nur zu dem jeweiligen Zeitpunkt, also gleichsam nur punktuell geben. Auch wenn es Sache des Bauherrn ist, der Genehmigungsfreistellung, die keine einer Baugenehmigung vergleichbare Schutzwirkung nachfolgenden Änderungen der bauplanungsrechtlichen Vorgaben nach Absatz 2 Nr. 1 und 2 gegenüber vermittelt, solche Änderungen selbst zu beobachten und zu verfolgen, erscheint es sachgerecht, der Gemeinde nach Ablauf eines Zeitraums von drei Jahren nach (erstmaliger) Genehmigungsfreistellung (entsprechend der Geltungsdauer der Baugenehmigung nach § 72 Abs. 1) Gelegenheit zu geben, ihre Haltung zu einem nach wie vor plankonformen Bauvorhaben nochmals zu überdenken (Satz 4).
Absatz 4 enthält nähere Regelungen über die gemeindliche Erklärung nach Absatz 2 Nr. 4 erste Alternative und deren Wirkungen. Satz 1 enthält bewusst keine abschließende Aufzählung derjenigen Gründe, welche die Gemeinde dazu veranlassen können beziehungsweise dürfen, zu erklären, dass das vereinfachte Baugenehmigungsverfahren durchgeführt werden soll. Damit soll zum einen der Eindruck vermieden werden, der Gemeinde würden durch die Einräumung der Erklärungsmöglichkeit bestimmte Prüfpflichten auferlegt, die ihr auch gegenüber dem Bauherrn mit entsprechenden Konsequenzen (Feststellungswirkung, Amtshaftung) obliegen könnten. Zum anderen wird dadurch verdeutlicht, dass die gemeindliche Erklärung, dass das vereinfachte Baugenehmigungsverfahren durchgeführt werden soll, stets zur Genehmigungsbedürftigkeit des Bauvorhabens führt und, unter den Voraussetzungen des Satzes 4, unabhängig von dem Grund der Differenzen zwischen Bauherrn und Gemeinde in diesem Verfahren eine schnelle Konfliktlösung erfolgen kann.
Satz 2 unterstreicht, dass die Genehmigungsfreistellung kein Baugenehmigungsverfahren ist und keine "genehmigungsartige" Funktion erfüllt, indem klargestellt wird, dass auf ein Unterlassen der gemeindlichen Erklärung kein Rechtsanspruch (des Bauherrn) besteht.
Die Sätze 3 und 4 regeln die Rechtsfolgen der Abgabe der gemeindlichen Erklärung, dass das vereinfachte Baugenehmigungsverfahren durchgeführt werden soll. Diese Erklärung führt stets zur Genehmigungsbedürftigkeit des Bauvorhabens. Im Falle des Satzes 3 hat die Gemeinde dem Bauherrn die vorgelegten Unterlagen zurückzureichen, da dann, mangels Bauantrags, kein Baugenehmigungsverfahren anhängig ist. Hat der Bauherr bei der Vorlage der Unterlagen bestimmt, dass seine Vorlage im Fall der Erklärung nach Absatz 2 Nr. 4 als Bauantrag zu behandeln ist, wird die Genehmigungsfreistellung gewissermaßen als Baugenehmigungsverfahren fortgesetzt, das mit der Weitergabe der Unterlagen an die Bauaufsichtsbehörde nach Satz 4 bei dieser anhängig wird.
Absatz 5 stellt in Satz 1 klar, dass die Genehmigungsfreistellung nicht von den durch § 65 begründeten Anforderungen bezüglich der Erstellung und gegebenenfalls Prüfung der bautechnischen Nachweise entbindet. Satz 2 erklärt bestimmte Bestimmungen über die vollständige Einreichung der Bauvorlagen, deren Unterzeichung und den Baubeginn für entsprechend anwendbar.
Thüringer Landtag Drucksache 5/5768
2016 (G.v.22.3.2016 - GVBl. 2016, 153)
Nach Artikel 13 der Richtlinie 2012/18/EU haben die Mitgliedstaaten dafür zu sorgen, dass zwischen den unter die Richtlinie fallenden Betrieben einerseits und unter anderem Wohngebieten, öffentlich genutzten Gebäuden und Gebieten sowie Erholungsgebieten andererseits ein angemessener Sicherheitsabstand gewahrt bleibt, wenn diese Ansiedlungen oder Entwicklungen Ursache von schweren Unfällen sein oder das Risiko eines schweren Unfalls vergrößern oder die Folgen eines solchen Unfalls verschlimmern können. Bei der Beurteilung, ob derartige Risiken bestehen, kommt es nicht nur auf die von einem Betriebsbereich ausgehenden Gefahren an. Zu berücksichtigen sind auch vorhabenspezifische Faktoren wie die Zunahme der Zahl der möglicherweise betroffenen Personen, Schutzmaßnahmen an der schutzwürdigen Bebauung oder die besondere Gefährdung oder Schutzbedürftigkeit der betroffenen Personen.Um diese Anforderungen zu berücksichtigen, ist sicherzustellen, dass für die unter die Richtlinie 2012/18/EU fallenden schutzbedürftigen Vorhaben ein Verwaltungsverfahren durchgeführt wird, in dem die Anforderungen der Richtlinie 2012/18/EU geprüft werden. Diese Vorhaben müssen daher aus dem Anwendungsbereich der Genehmigungsfreistellung
herausgenommen werden.
Zu Buchstabe a:
Redaktionelle Änderung
Zu Buchstabe b:
Nummer 1 dient der Umsetzung der Richtlinie 2012/18/EU für Wohngebiete.
Wohngebiete im Sinne der Richtlinie sind nicht ausschließlich im Sinne der Gebietskategorien der Baunutzungsverordnung zu verstehen. Vielmehr geht es um die Vorsorge, dass nicht durch eine Neuansiedlung einer größeren Zahl von Menschen die Folgen eines Unfalls im Betriebsbereich erheblich verschärft werden. Abstrakt lassen sich Wohngebiete im Sinne der Richtlinie daher dahin gehend definieren, dass es sich um Flächen handeln muss, die zumindest überwiegend dem Wohnen dienen oder die in einer Weise genutzt werden, die unter Gesichtspunkten des Immissions- oder Störfallschutzes ähnlich wie das Wohnen eines besonderen Schutzes bedürfen. Daher ist die Errichtung einzelner Wohngebäude oder die Schaffung von Wohnraum durch Umbaumaßnahmen und Nutzungsänderungen dann erfasst, wenn sie eine einem Wohngebiet vergleichbare Nutzungsintensität aufweisen.
Für die Festlegung des Schwellenwerts von 5.000 m2 Brutto-Grundfläche sind folgende Überlegungen maßgeblich:
Die Richtlinie 2012/18/EU führt als schutzbedürftige Nutzungen Wohngebiete, öffentlich genutzte Gebäude und Gebiete, Erholungsgebiete und Hauptverkehrswege auf. Dabei handelt es sich typischerweise um Vorhaben mit einer größeren Nutzungsintensität. Die größere Nutzungsintensität kann Auswirkungen auf den in Artikel 13 Abs. 1 Satz 2 Buchst. c der Richtlinie 2012/18/EU genannten Schutzzweck haben, das Risiko eines schweren Unfalls zu vergrößern oder die Folgen eines solchen Unfalls zu verschlimmern.
Da die Richtlinie kein absolutes Verschlechterungsverbot enthält, erscheint eine zusätzliche Anwesenheit einer nicht zu kleinen Zahl von Personen als noch akzeptabel. Auch ist durch die Ansiedlung einzelner Personen in den meisten Fällen nicht mit einer signifikanten Gefahrerhöhung zu rechnen, da ein Schutz dieser Personen durch die vorhandenen Sicherungen des Katstrophenschutzes (Möglichkeiten der Warnung und/oder Evakuierung) möglich ist.
Ab einer Zahl von mehr als 100 Personen, die sich bei Verwirklichung eines Bauvorhabens zusätzlich im Gefahrenbereich eines Betriebs befinden, ist auch nach Auffassung der Bauministerkonferenz dagegen damit zu rechnen, dass nicht nur in Einzelfällen das Gefährdungspotential signifikant ansteigt und daher auch zusätzliche Überlegungen zur Warnung und Evakuierung der betroffenen Personen erforderlich sind.
Daher sollen unter Wohngebieten im Sinne der Richtlinie 2012/18/EU Bauvorhaben verstanden werden, die der Errichtung von Wohnraum für mehr als 100 Personen dienen. Dabei sollen auch Baumaßnahmen erfasst werden, bei denen nicht nur Wohnraum, sondern zusätzlich auch Flächen für andere Nutzungen (beispielsweise Einzelhandel, Büroflächen) geschaffen werden. Entscheidend ist hinsichtlich Nummer 1 aber nur die Größe der geplanten Wohnflächen.
Maßgeblich ist das jeweilige Bauvorhaben, das im Einzelfall auch mehrere Gebäude umfassen kann, die gemeinsam Gegenstand eines einheitlichen bauaufsichtlichen Verfahrens sind. Eine Hinzurechnung weiterer in der Nachbarschaft möglicher Wohnungsbaumaßnahmen oder im zeitlichen Zusammenhang bereits durchgeführter Wohnungsbaumaßnahmen erfolgt nicht. Soweit derartige Entwicklungen aufgrund der in der Nachbarschaft vorhandenen unbebauten Flächen möglich sind, kann im Einzelfall nach § 1 Abs. 3 des Baugesetzbuchs eine Steuerung durch die Aufstellung oder Änderung von Bebauungsplänen erforderlich sein.
Da weder für Bauherren noch für Bauaufsichtsbehörden ausreichend vorhersehbar ist, in welcher Intensität Wohnungen genutzt werden, soll nicht auf die vorgesehene Zahl von Bewohnern, sondern auf die Brutto-Grundfläche der dem Wohnen dienenden Nutzungseinheiten abgestellt werden, die regelmäßig ohnehin im Zusammenhang mit der Gebäudeplanung ermittelt wird. Werden einzelne Räume von Nutzungseinheiten auch anders genutzt, ist die auf die Nutzungseinheit entfallende Brutto-Grundfläche gleichwohl vollständig zu berücksichtigen, wenn die Nutzungseinheit auch dem Wohnen dient.
Gewählt wird ein Wert von insgesamt 5.000 m2 Brutto-Grundfläche, was einem Durchschnittswert von 50 m2 Fläche pro Person entspricht. Dabei wurde berücksichtigt, dass das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung im Jahr 2013 auf Grundlage des Mikrozensus eine durchschnittliche Wohnfläche von 45 m2 pro Person ermittelt hat. Im Jahr 1998 lag der Wert bei 39 m2 Wohnfläche pro Person. Für das Jahr 2025 wird für alle Bundesländer eine durchschnittliche Wohnfläche von etwa 52 m2 pro Person prognostiziert (empirica, Wohnflächennachfrage in Deutschland, Berlin 2005). Die Auswirkungen des derzeitigen Flüchtlingszuzugs auf die Wohnungsgrößen lassen sich nicht hinreichend sicher prognostizieren, dürften die Geschwindigkeit der Wohnflächenzunahme aber lediglich verringern, nicht aber den Trend umkehren.
Nummer 2 dient der Umsetzung der Richtlinie 2012/18/EU für öffentlich genutzte Gebäude.
Der Begriff der baulichen Anlagen, die öffentlich zugänglich sind, entspricht dem Begriff in § 50 Abs. 2. Aus den vorstehend bei der Nummer 1 genannten Gründen wird als Schwellenwert, ab dem ein öffentlich zugängliches Gebäude im Hinblick auf die Anforderungen der Richtlinie 2012/18/EU zu prüfen ist, eine Zahl von mehr als 100 Besuchern gewählt. Entsprechend dem Ziel der Richtlinie, die Öffentlichkeit vor Gefahren zu schützen, wird nicht auf die insgesamt in einem Gebäude anwesenden Personen, sondern lediglich auf die Zahl der Besucher abgestellt. Bei Änderungen und Nutzungsänderungen bestehender Gebäude kommt es darauf an, ob die mögliche Zahl der Besucher um mindestens 100 Personen erhöht wird.
Die Nummern 1 und 2 stellen lediglich sicher, dass für die darunter fallenden Nutzungen ein Genehmigungsverfahren durchgeführt wird, das auch die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit umfasst. Eine Prüfung, ob auch bestimmte Sonderbauten zu berücksichtigen sind, ist entbehrlich, weil diese ohnehin nicht dem Genehmigungsfreistellungsverfahren unterliegen.
Voraussetzung der Nichtanwendbarkeit der Genehmigungsfreistellung ist, dass das Bauvorhaben innerhalb eines Abstands um einen Betriebsbereich im Sinne des § 3 Abs. 5a des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (BImSchG) verwirklicht werden soll, bei dem eine erhöhte Gefährdung der Nutzer nicht unwahrscheinlich ist. Für die Bemessung des Abstands spielen unter anderem die im Betriebsbereich verwendeten Stoffe, die Art des Umgangs mit diesen Stoffen, Schutzvorkehrungen des Betriebes, die Erreichbarkeit durch Rettungskräfte, Gegebenheiten der unmittelbaren Umgebung einschließlich typischerweise zu erwartender Wetterlagen und repräsentative Szenarien eines schweren Unfall eine Rolle. Soweit keine näheren Kenntnisse beispielsweise aufgrund von Sicherheitsberichten der Betriebe oder in früheren Genehmigungsverfahren eingeholter Gutachten vorliegen, kann der Abstand in Anlehnung an Nummer 3.1 des Leitfadens "Empfehlungen für Abstände zwischen Betriebsbereichen nach der Störfall-Verordnung und schutzbedürftigen Gebieten im Rahmen der Bauleitplanung – Umsetzung § 50 BImSchG" der Kommission für Anlagensicherheit beim Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit vom November 2010, 2. überarbeitete Fassung ermittelt werden.
Der Abstand soll für alle Betriebsbereiche durch das Landesverwaltungsamt ermittelt und bekannt gemacht werden. Ob die Bekanntgabe in Form einer Karte oder durch Bekanntgabe der Standorte der Betriebsbereiche und eines Umkreises um diese Betriebsbereiche oder in sonstiger Form erfolgt, ist nach Praktikabilitätsgesichtspunkten zu entscheiden. Soweit
in Sicherheitsberichten der Betriebe Angaben zum Sicherheitsabstand enthalten sind, werden diese regelmäßig übernommen werden können. Liegen diese Angaben nicht vor, muss entsprechend der Aufgabe, eine erste Beurteilungsgrundlage zu schaffen, der Abstand so bemessen werden, dass er "auf der sicheren Seite" liegt.
Wird der Abstand eingehalten, kann regelmäßig davon ausgegangen werden, dass durch die Ansiedlung der schutzbedürftigen Nutzung das Risiko eines schweren Unfalls weder vergrößert noch die Folgen eines solchen Unfalls verschlimmert werden.
Der Abstand dient in vielen Fällen nur einer ersten Abschätzung des Gefährdungspotentials und kann teilweise die Besonderheiten des jeweiligen Betriebsbereichs und seiner Umgebung nicht umfassend berücksichtigen. Bei Berücksichtigung der konkreten Verhältnisse des Betriebsbereichs werden vielfach auch deutlich geringere Abstände möglich sein, die Artikel 13 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2012/18/EU als angemessene Abstände bezeichnet. Der Entwurf zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes verwendet hierfür den Begriff "Sicherheitsabstand", der auch in die Thüringer Bauordnung übernommen werden soll.
Zur Ermittlung des Sicherheitsabstands sind regelmäßig Gutachten erforderlich, die vom Bauherrn vorzulegen sind, soweit sich der Sicherheitsabstand nicht aus dem Sicherheitsbericht nach § 9 der Störfall- Verordnung ergibt. Da diese Gutachten häufig zu Zeitverlusten führen und erhebliche Kosten verursachen können, werden sie mitunter durch Gemeinden in Auftrag gegeben. Liegen derartige Gutachten vor, kann bei Einhaltung der sich daraus ergebenden Sicherheitsabstände ebenfalls
davon ausgegangen werden, dass die Anforderungen der Richtlinie 2012/18/EU eingehalten sind. Eine Herausnahme der Bauvorhaben aus dem Anwendungsbereich der Genehmigungsfreistellung ist daher nicht erforderlich, wenn der Sicherheitsabstand eingehalten ist.
Wegen der besonderen Kenntnisse der Immissionsschutzbehörden sollen diese bei der Beurteilung einbezogen werden, ob der Sicherheitsabstand eingehalten ist. Bei der Mitteilung der Immissionsschutzbehörde handelt es sich nicht um einen isoliert anfechtbaren Verwaltungsakt, sondern um eine einfache Auskunft darüber, ob der Immissionsschutzbehörde aufgrund eigener Ermittlungen, vorgelegter Gutachten oder in sonstiger Weise Kenntnisse vorliegen, dass der Sicherheitsabstand eingehalten ist oder nicht. Die Mitteilung hat insoweit verfahrenssteuernde Wirkung, als sie dazu führt, dass das Genehmigungsfreistellungsverfahren weiter anwendbar ist.
Die Mitteilung kann durch den Bauherrn erbeten werden, weil dieser zunächst für die Beurteilung verantwortlich ist, ob er für sein Bauvorhaben eine Genehmigung benötigt. Möglich ist auch eine Anfrage der Bauaufsichtsbehörde oder der Gemeinde. Schließlich ist auch denkbar, dass die Immissionsschutzbehörde aufgrund von Kenntnissen aus Baumaßnahmen in der Nähe des Baugrundstücks oder aufgrund von Angaben in einem Sicherheitsbericht des Störfallbetriebs allgemein der Aauaufsichtsbehörde den Sicherheitsabstand mitteilt mit der Folge, dass eine Mitteilung im Einzelfall entbehrlich ist.
Folge der Herausnahme der im neuen Satz 2 genannten Bauvorhaben aus dem Genehmigungsfreistellungsverfahren ist, dass diese Bauvorhaben dem vereinfachten Baugenehmigungsverfahren nach § 62 unterliegen. Das bedeutet zwar eine Abkehr von dem Grundsatz, dass der Genehmigungsfreistellung und dem vereinfachten Baugenehmigungsverfahren grundsätzlich die gleichen Bauvorhaben unterliegen. Dies ist aber hinzunehmen, weil andernfalls für die nach der Richtlinie 2012/18/ EU zu beurteilenden Vorhaben ein eigenständiges Prüfverfahren hätte geschaffen werden müssen, dessen Zusammenspiel mit den Verfahren nach den §§ 61 bis 63 im Einzelfall zu Problemen hätte führen können.
Thüringer Landtag Drucksache 6/1398
2. Verwaltungsvorschrift
61.1 Werden verfahrensfreie Bauvorhaben (z.B. Garagen) im Zusammenhang mit dem Hauptgebäude errichtet, nehmen sie nach § 61 Abs. 1 Nr. 4 am Genehmigungsfreistellungsverfahren teil. Andernfalls verbleibt es bei der Verfahrensfreiheit.
61.2.1 Ein Bauvorhaben, das nur nach der Zulassung einer Ausnahme oder Befreiung nach § 31 BauGB genehmigt werden kann, widerspricht im Sinne des Absatzes 2 Nr. 2 dem Bebauungsplan und ist daher in einem Verfahren nach § 62 zu behandeln. Das gilt auch, wenn die Ausnahme oder Befreiung bereits in einem gesonderten Vorbescheidsverfahren zugelassen wurde. Dagegen steht das Erfordernis einer Abweichung von Bestimmungen der ThürBO oder aufgrund der ThürBO dem Verfahren nach § 61 nicht entgegen; insoweit ist eine isolierte Abweichung nach § 66 Abs. 2 erforderlich.
61.3 Nach Ablauf der Monatsfrist nach Eingang der vollständigen erforderlichen Unterlagen kann der Bauherr formell legal mit der Ausführung beginnen. Wird der Bebauungsplan nach Durchführung des Verfahrens aber vor Baubeginn geändert, wird das Vorhaben unzulässig. Das Gleiche gilt für sonstige Änderungen der zu beachtenden Bestimmungen.
61.4.1 Die Beteiligung der Gemeinde dient ausschließlich der Sicherung ihrer Planungshoheit. Die Gemeinde treffen keine Prüfpflichten. Sie ist daher weder verpflichtet, die Übereinstimmung mit dem Bebauungsplan noch die gesicherte Erschließung zu prüfen. Auch die „Freigabe“ des Bauvorhabens nach Absatz 3 Satz 3 stellt keine Bestätigung der materiellen Rechtmäßigkeit des Vorhabens dar.
61.4.2 Die Gemeinde kann frei entscheiden, ob sie die Durchführung des vereinfachten Genehmigungsverfahrens oder eine vorläufige Untersagung nach § 15 Abs. 1 S. 2 BauGB verlangt. Ein entsprechendes Verlangen kann insbesondere bei Zweifeln an der Plankonformität des Vorhabens sinnvoll sein oder zur Ermöglichung einer Bebauungsplanänderung aus Anlass eines konkreten Vorhabens.
61.5 Die Genehmigungsfreistellung entbindet nicht von den Anforderungen bezüglich der Erstellung und ggf. Prüfung bautechnischer Nachweise i.S.d. § 65. Soweit eine Prüfung der Nach-weise für Vorhaben nach § 61 erforderlich ist, kann der Bauherr den Prüfauftrag nach § 2 Abs. 1 ThürPPVO selbst erteilen. Die bautechnischen Nachweise gehören nicht zu den einzureichenden Bauvorlagen.
VollzBekThürBO
B. Normauslegung
Zitiervorschlag:
Müller-Grune Sven, Kommentar zur Thüringer Bauordnung, Schmalkalden 2017, § 61.
© Prof. Dr. Sven Müller-Grune |
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