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Informationsrecht


Fall 6 - Verfassungsschutzbericht


Der A-Verlag verlegt die Wochenzeitung „Junge Freiheit”. Das Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen gibt jährlich Verfassungsschutzberichte zur Information der Öffentlichkeit heraus. Rechtsgrundlage dafür ist § 15 Abs. 2 NWVerfSchG in der Fassung des Gesetzes vom 18. 12. 2002. In den Berichten über die Jahre 1994 und 1995 wurde die „Junge Freiheit” - ähnlich wie auch in den Folgejahren - im Rahmen der Berichterstattung über rechtsextremistische Bestrebungen ausführlich behandelt. Die in ihr veröffentlichten Beiträge enthielten nach Einschätzung des Landes Anhaltspunkte für den Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen. Die Veröffentlichung erfolgte 1994 unter der Rubrik „Rechtsextremismus” mit der Untergliederung „rechtsextremistische Publikationen, Verlage, Vertriebe, Medien” und 1995 unter der Rubrik „rechtsextremistische Organisationen, Gruppierungen und Strömungen”. Im Verfassungsschutzbericht für das Jahr 1994 sind Artikel aus der „Jungen Freiheit” mit folgenden Themenbereichen auszugsweise zitiert und analysiert: Nationalistisch und rassistisch motivierte Fremdenfeindlichkeit/Bestrebungen gegen Gleichheitsgrundrechte - Missachtung der Menschenwürde; Antiparlamentarismus/Bestrebungen gegen die parlamentarische Demokratie; Mangelnde Distanz zur NS-Herrschaft/Verharmlosung und Relativierung von NS-Verbrechen - Rechtfertigung des Nationalsozialismus; Strategische Aussagen/strategische Forderungen. Weiter enthält der Bericht eine Würdigung der Bewegung „Neue Rechte”, deren Gedankengut in der „Jungen Freiheit” propagiert werde. Unter anderem heißt es: Die durch den Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen vorgenommene Auswertung der bisher erschienenen Ausgaben der „Jungen Freiheit”, insbesondere des Jahres 1994, hat zahlreiche tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht rechtsextremistischer Bestrebungen ergeben. Konstant und auffällig ist die „Jungen Freiheit” von Beiträgen durchsetzt, in denen die Verfasser für politische Standpunkte werben oder Forderungen erheben, die mit grundlegenden Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, insbesondere der Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten und dem Grundsatz der Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber der Volksvertretung, nicht in Einklang stehen.

Ist die Erwähnung der Zeitung „Junge Freiheit“ im Verfassungsschutzbericht mit Art. 5 Abs. 1 GG vereinbar?

Lösungshinweise


1. Der Hinweis im Verfassungsschutzbericht eines Landes auf den Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen eines Presseverlags kommt einem Eingriff in die Pressefreiheit gleich und bedarf deshalb der Rechtfertigung durch ein allgemeines Gesetz im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG. § 15 Abs. 2 des Gesetzes über den Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen ist ein solches Gesetz.

2. Prüfungsmaßstab ist vorliegend die Pressefreiheit. Die staatliche Maßnahme trifft das Presseerzeugnis selbst und beeinflusst die Rahmenbedingungen pressemäßiger Betätigung. Gegenstand der Verfassungsschutzberichte ist der Hinweis auf den Verdacht, dass es Bestrebungen gibt, mit Hilfe der Zeitung die freiheitliche demokratische Grundordnung in Bund und Ländern zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen. Die Verfassungsschutzberichte greifen zum Beleg des angenommenen Verdachts verfassungsfeindlicher Bestrebungen einzelne Artikel aus der "Jungen Freiheit" heraus, um auf dieser Grundlage ein Gesamturteil über die Zeitung und die hinter ihr stehende Gruppierung zu begründen: Die negative Beurteilung der Bestrebungen gilt der Organisation, die sich der Zeitung als Sprachrohr bedient.

3. Nicht jedes staatliche Informationshandeln und nicht jede Teilhabe des Staates am Prozess öffentlicher Meinungsbildung ist als Grundrechtseingriff zu bewerten (vgl. BVerfGE 105, 252 <265 ff.> - zu Art. 12 Abs. 1 GG -; 105, 279 <294 ff., 299 ff.> - zu Art. 4 Abs. 1 GG -). Maßgebend ist, ob der Schutzbereich eines Grundrechts berührt wird und ob die Beeinträchtigung einen Eingriff oder eine eingriffsgleiche Maßnahme darstellt. Das ist bei der Nennung der Zeitung im Verfassungsschutzbericht zu bejahen.

4. Der Staat ist grundsätzlich nicht gehindert, das tatsächliche Verhalten von Gruppen oder deren Mitglieder wertend zu beurteilen (vgl. BVerfGE 105, 279 <294> - zu Art. 4 Abs. 1 GG -). Die Verteidigung von Grundsätzen und Wertvorgaben der Verfassung durch Organe und Funktionsträger des Staates kann auch mit Hilfe von Informationen an die Öffentlichkeit und der Teilhabe an öffentlichen Auseinandersetzungen erfolgen. Führt das staatliche Informationshandeln aber zu Beeinträchtigungen, die einem Grundrechtseingriff gleichkommen (vgl. BVerfGE 105, 252 <273>), bedürfen sie der Rechtfertigung (vgl. BVerfGE 105, 279 <299 ff.> - zu Art. 4 GG -).

5. Die Pressefreiheit ist nicht unbeschränkt gewährleistet. Sie findet ihre Schranken nach Art. 5 Abs. 2 GG unter anderem in den allgemeinen Gesetzen. Allgemein sind Gesetze, die sich nicht gegen das Grundrecht an sich oder gegen die Äußerung einer bestimmten Meinung richten, sondern dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen (vgl. BVerfGE 7, 198 <209 f.>; 97, 125 <146>; stRspr).

6. § 15 Abs. 2 VSG NRW ist ein solches allgemeines Gesetz. Die in § 15 Abs. 2 VSG NRW enthaltene Ermächtigung zur Information der Öffentlichkeit in Verfassungsschutzberichten zum Zweck der Aufklärung über verfassungsfeindliche Bestrebungen und Tätigkeiten dient, wie die Bezugnahme auf § 3 Abs. 1 VSG NRW zeigt, dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in Bund und Ländern. Die Ermächtigung ist weder gegen eine bestimmte Meinung noch gegen den Prozess der freien Meinungsbildung oder gegen freie Information als solche gerichtet, sondern zielt auf die Wahrung eines allgemein in der Rechtsordnung, hier der Verfassung, verankerten Rechtsguts, dessen Schutz unabhängig davon ist, ob es durch Meinungsäußerungen oder auf andere Weise gefährdet oder verletzt wird.

7. Bedenken gegen die formelle Verfassungsmäßigkeit des § 15 Abs. 2 in Verbindung mit § 3 Abs. 1 VSG NRW bestehen nicht. Insbesondere hat das Land Nordrhein-Westfalen seine Gesetzgebungskompetenz nicht überschritten.

8. Auch in materiellrechtlicher Hinsicht bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen § 15 Abs. 2 in Verbindung mit § 3 Abs. 1 VSG NRW, der die Behörde unter näher bezeichneten Voraussetzungen dazu ermächtigt, in dem Verfassungsschutzbericht über verfassungsfeindliche Bestrebungen zu informieren. Die Veröffentlichung in den Verfassungsschutzberichten ist eine grundsätzlich geeignete Vorkehrung zur Aufklärung der Öffentlichkeit und in diesem Rahmen zur Abwehr verfassungsfeindlicher Bestrebungen. Bei der Nutzung der Ermächtigung des § 15 Abs. 2 VSG NRW zur Veröffentlichung von Informationen im Verfassungsschutzbericht sind die rechtlichen Grenzen des Ermessens zu beachten (vgl. § 40 VwVfG NRW), zu denen der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gehört. Das Gebot der Erforderlichkeit wird in § 15 Abs. 2 VSG NRW zwar ausdrücklich nur für die Veröffentlichung personenbezogener Daten erwähnt. Es gilt aber als Bestandteil des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes kraft Verfassungsrechts stets bei Eingriffen oder eingriffsgleichen Beeinträchtigungen von Grundrechten und ist daher ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der Norm.Die rechtsstaatlichen Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit einer belastenden Maßnahme werden im Einzelnen durch den Rang des zu schützenden Rechtsguts und die Intensität seiner Gefährdung beeinflusst, aber auch durch die Art und Schwere der Beeinträchtigung des Freiheitsrechts des nachteilig Betroffenen. Die tatsächlichen Anhaltspunkte müssen allerdings hinreichend gewichtig sein. Rechtfertigen sie nur den Schluss, dass möglicherweise ein Verdacht begründet ist, reichen sie auch nach dieser Auslegung als Grundlage einer Grundrechtsbeeinträchtigung nicht aus. Stehen die Bestrebungen noch nicht fest, begründen tatsächliche Anhaltspunkte aber einen entsprechenden Verdacht, muss dessen Intensität hinreichend sein, um die Veröffentlichung in Verfassungsschutzberichten auch angesichts der nachteiligen Auswirkungen auf die Betroffenen zu rechtfertigen.

9. Unter Bestrebungen im Sinne des § 15 Abs. 2 VSG NRW versteht das Gesetz politisch motivierte, ziel- und zweckgerichtete Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluss, der darauf gerichtet ist, einen der in § 3 Abs. 4 VSG NRW genannten Verfassungsgrundsätze zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen (§ 3 Abs. 3 Satz 1 Buchstabe c VSG NRW). Für einen Personenzusammenschluss handelt, wer ihn in seinen Bestrebungen nachdrücklich unterstützt (§ 3 Abs. 3 Satz 2 VSG NRW). Verhaltensweisen von Einzelpersonen, die nicht in einem oder für einen Personenzusammenschluss handeln, sind nur ausnahmsweise als Bestrebungen im Sinne des Gesetzes zu bewerten, so wenn sie auf die Anwendung von Gewalt gerichtet sind (§ 3 Abs. 3 Satz 2 VSG NRW).

10. Mit der Definition der Bestrebungen in § 3 Abs. 3 Satz 1 Buchstabe c VSG NRW greift das Gesetz ein auch in § 92 Abs. 3 Nr. 3 StGB enthaltenes Tatbestandsmerkmal auf. Im Strafrecht ist anerkannt, dass die Missbilligung eines Verfassungsgrundsatzes zur Erfüllung des Tatbestandsmerkmals nicht ausreicht. Vorausgesetzt ist vielmehr, dass bestimmte Personen oder Gruppen sich bemühen, einen der Verfassungsgrundsätze zu beseitigen (vgl. Stree/Sternberg-Lieben in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 26. Aufl. 2001, Rn. 16 f. zu § 92). Die bloße Kritik an Verfassungswerten und Verfassungsgrundsätzen ist nicht als Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzuschätzen, wohl aber darüber hinausgehende Aktivitäten zu deren Beseitigung. Unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit müssen Art und Schwere der Sanktion auf das konkrete Gefahrenpotenzial abgestimmt sein.

11. Knüpft die Sanktion an Meinungsäußerungen oder Presseveröffentlichungen an, muss ergänzend berücksichtigt werden, dass die Meinungs- und die Pressefreiheit ihrerseits konstituierend für die Demokratie sind, die auch eine kritische Auseinandersetzung mit Verfassungsgrundsätzen und -werten zulässt. Der Schutzgehalt der Kommunikationsgrundrechte kann Auswirkungen sowohl auf die Anforderungen an die Feststellung von Bestrebungen oder eines entsprechenden Verdachts als auch auf die rechtliche Bewertung der ergriffenen Maßnahme haben, insbesondere im Hinblick auf ihre Angemessenheit.

12. Dementsprechend reicht die bloße Kritik an Verfassungswerten nicht als Anlass aus, um eine verfassungsfeindliche Bestrebung im Sinne des § 15 Abs. 2 in Verbindung mit § 3 Abs. 3 VSG NRW zu bejahen oder allein deshalb die negative Sanktion einer Veröffentlichung in den Verfassungsschutzberichten zu ergreifen. Auch sieht § 15 Abs. 2 VSG NRW eine von der Feststellung des Verdachts solcher Bestrebungen abgelöste inhaltliche Bewertung von Artikeln im Verfassungsschutzbericht nicht vor. Einzelne Artikel können allerdings zur Begründung des Verdachts verfassungsfeindlicher Bestrebungen herangezogen werden, wenn sie aus sich heraus oder im Zusammenwirken mit anderen Befunden darauf hindeuten.

13. Soweit ein auf Tatsachen gegründeter Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen der Gruppierung besteht, ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Maßstab für die Entscheidung, in welcher Art und Weise darüber berichtet werden darf.

14. Der Beschränkung der Maßnahme auf das zum Rechtsgüterschutz Erforderliche entspricht es, bei einer Berichterstattung aus Anlass eines Verdachts nicht den Eindruck zu erwecken, es stehe fest, dass die betroffene Gruppierung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen verfolgt. Daher ist - etwa in den gewählten Überschriften und der Gliederung des Berichts - deutlich zwischen solchen Organisationen zu unterscheiden, für die nur ein Verdacht besteht, und solchen, für die solche Bestrebungen erwiesen sind.

15. Der Grundsatz der Erforderlichkeit gebietet es ferner, bei einer über einen längeren Zeitraum wiederholt erfolgenden Veröffentlichung eines solchen nur auf einzelne Publikationen gestützten Verdachts anderweitige Maßnahmen zu ergreifen, um abzuklären, ob die Bestrebungen tatsächlich bestehen.

Siehe hierzu auch folgende Entscheidung: 1 BvR 1072/01 vom 24. Mai 2005


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