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WIPR I - Einführung in die juristische Methodik

Einstieg in die Rechtsanwendung

A. Rechtsnorm, Rechtsfolge, Voraussetzung
Die Begriffe "Rechtsnorm", "Rechtsfolge", "Voraussetzung" (oder "Tatbestandsmerkmal") stammen zwar aus der Begriffswelt der Rechtstheorie, sind aber für das Verständnis der Rechtspraxis unabdingbar. Sie sollen nachstehend an einem praktischen Beispiel erklärt werden.

1. Der Sachverhalt
Beispiel 1:
Grob (G) prügelt ohne jeglichen Grund den Fein (F) krankenhausreif. Glücklicherweise hat F keine bleibenden Schäden zu beklagen, die Behandlung im Krankenhaus war aber teuer. Deshalb verlangt F von G, dass G die Krankehausrechnung bezahlt.
Kann er das?
 

2. Etwas Theorie
An dieser Stelle sind zunächst die Begriffe Rechtsfolge und Rechtsnorm zu erklären. Denn eine Rechtsnorm ist eine Rechtsfolgenanordnung. In vielen Fällen hat die Rechtsfolge einen nachteiligen Charakter für den Normadressaten (Sanktion, z. B. Schadensersatzpflicht), dies ist allerdings nicht zwingend. Die Rechtsfolge ist auch nicht immer klar und deutlich formuliert; häufig muss das Gesetz noch ausgelegt werden, damit die Rechtsfolge klar wird. Dies ändert jedoch nichts daran, dass eine (sinnvolle) Norm ohne Rechtsfolge nicht existieren kann.

Die Rechtsfolge tritt ein, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen der Norm erfüllt sind. Dabei ist allerdings möglich, dass eine einzelne Voraussetzung der (Haupt)Norm an sich so komplex ist, dass sie sich aus einer Reihe weiterer (Hilfs)Normen zusammensetzt, deren einzige Rechtsfolge ist, dass eine der (Unter)Voraussetzungen der (Haupt)Norm erfüllt ist (Detaillierter hierzu Adomeit/Hähnchen, Rechtstheorie für Studenten, Teil I: Normlogik - Was sind Normen, in der 3. Aufl. auf S. 17 ff.).

Mit anderen Worten - eine Norm mit der oben in etwa beschriebenen Komplexität kann schematisch wie folgender Satz aufgefasst werden:
A tritt ein wenn C und D; D tritt aber nur dann ein, wenn E und F

Auf diese Weise ist das Recht und die Rechtsanwendung - zumindest in ihrem handwerklichen Teil - eine reine Aussagenlogik. Diese Aussagenlogik ist zugleich Grundlage jeglichen juristischen Denkens.

An dieser Stelle ein kurzer Crashkurs der Aussagenlogik:
      • eine Aussage (A, B, C) kann wahr (+) oder falsch (-) sein;
      • eine Aussage (A) kann eine Negation einer anderen Aussage (B) sein: A ist ¬ B;
      • zwei (oder mehr) Aussagen (B und C) können kumulativ eine Bedingung einer anderen (A) sein: A ist B ∧ C;
      • eine Aussage (A) kann vom alternativen Vorliegen (nur) einer von mehreren (B und C) abhängen: A ist B ∨ C;
Hinweise zur Vertiefung: Diese kurze Darstellung ersetzt selbstverständlich keine eingehende Beschäftigung mit der Aussagenlogik! Sollten Sie an dieser Stelle Defizite feststellen, dann holen Sie das bitte vor der weiteren Beschäftigung mit juristischen Fragestellungen dringend nach. Bereits hier ist darauf hinzuweisen, dass eines der entscheidenden Elemente des juristischen Denkens eine präzise Analyse, geradezu "Zerlegung" einer Norm in einzelne Aussagen gehört, wobei die innere Logik der Norm exakt verstanden werden muss.

Dies ist möglicherweise nur eine vereinfachte Darstellung der Rechtswissenschaft. Dieses gerade geschilderte, handwerkliche "Hantieren" mit Aussagen ist selbstverständlich nicht alles. Neben dem Handwerk benötigt der Jurist stets auch die juristische Kunst - d. h. die Fähigkeit, rhetorisch zu überzeugen, Argumentation zu formulieren, Auslegungsregeln anzuwenden etc. Werden diese Fähigkeiten allerdings an der handwerklich falschen Stelle eingesetzt, sind sie reine Zeitverschwendung. Grundlage der Rechtswissenschaft ist das juristische Handwerk.

Beispiel 1a:
Wenn F im Beispiel oben gar keinen Schadensersatz haben will, sondern verhindern möchte, dass G ihn künftig verprügelt, hilft ihm eine Vorschrift, die vielleicht sogar passt (siehe unten: § 823 BGB), überhaupt nicht, wenn sie von der Rechtsfolge her keine Verhinderung künftiger Taten beinhaltet. Wenn ich weiß, dass ich eine Vorschrift mit der passenden Rechtsfolge benötige (hier: Unterlassung der Angriffe), dann vergeude ich meine Zeit nicht mit der Begründung einer Schadensersatzpflicht.
 


3. Bedeutung für die Rechtsanwendung
Eine Vorschrift stellt Lösung des Problems dar, wenn sie in ihrer Rechtsfolge das vorsieht, was der Fragende sucht. F sucht im Fallbeispiel eine Norm, die ihm Ausgleich der Behandlungskosten verspricht. Ein solcher Ausgleich kann beispielsweise als Schadensersatz erfolgen. Es ist somit eine Vorschrift zu finden, die eine Pflicht zum Ersatz eines Schadens vorsieht. Alternativ (anders ausgedrückt) könnte sich F auf eine Vorschrift berufen, die (auf der anderen Seite) ein Recht statuiert, Schadensersatz zu verlangen.

Die passende Norm zum Fall könnte § 823 Abs. 1 BGB sein:
Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.

Aufgrund der in § 823 Abs. 1 BGB enthaltenen Norm könnte F verlangen, dass G ihm die Krankenhausrechnung ausgleicht. Diese Vorschrift sieht in ihrer Rechtsfolge einen Schadensersatzanspruch vor. Mit anderen Worten: § 823 BGB enthält die Rechtsfolge, die F sucht. Und gerade auf die Rechtsfolge der Norm kommt es an, um die Antwort auf die oben gestellte (und auch auf jede juristische) Frage zu finden.

Was die Vorschrift im Einzelnen bedeutet, bedarf einer genaueren Erläuterung. § 823 Abs. 1 BGB enthält neben der Rechtsfolge einige Voraussetzungen. Dies bildet auch folgende Skizze ab:

 (image: https://ife.erdaxo.de/uploads/WIPR1Einfuehrung/skizze1.png)

Da § 823 Abs. 1 BGB - zumindest nach genauerer Überlegung - das Recht des F enthält, von G etwas zu verlangen (also eine Rechtsfolge, die der Definition eines Anspruchs in § 194 Abs. 1 BGB entspricht), ist diese Vorschrift zugleich eine Anspruchsgrundlage (mehr dazu weiter unten, im Zusammenhang mit den sog. Hauptnormen und Hilfsnormen des Zivilrechts; an dieser Stelle ist lediglich die Bedeutung des Rechtsinstituts "Anspruch" für die Zivilrechtspraxis zu betonen).

Die Antwort auf die Frage, ob im Beispielsfall die Schadensersatzpflicht besteht oder nicht, ist zunächst einmal zweitrangig. Die entscheidende Feststellung ist an dieser Stelle, dass die Rechtsfolge einer Norm (und damit auch jeder geschriebenen Vorschrift, die eine Norm enthält) darüber entscheidet, ob diese Norm im jeweiligen Kontext eine Verwendung findet oder nicht. Stellt sich - wie hier - die Frage, ob jemandem ein Schadensersatz zusteht, hilft § 823 BGB, weil diese Vorschrift in ihrer Rechtsfolge die Schadensersatzpflicht enthält. Bei anderen Fragen - wie zum Beispiel bei der Frage, ob jemand fahrlässig handelt - hilft diese Norm nicht mehr. Dafür aber § 276 Abs. 2 BGB (Fahrlässig handelt, wer ...).


Kurze Zusammenfassung:
Rechtsnorm ist eine (gesetzliche oder andere) Regelung, also Anordnung von Folgen, die generell (für eine Vielzahl von Adressaten) und abstrakt (für eine Vielzahl von Fällen vorgesehen) ist. In logischer Hinsicht ist eine Rechtsnorm zugleich ein logischer Satz (Z. B. "wenn A und B, dann C").
Rechtsfolge ist Bestandteil einer Norm, der angibt, was gelten soll, wenn die Voraussetzungen (Tatbestandsmerkmale) einer Norm erfüllt sind;
Voraussetzung einer Rechtsnorm oder Tatbestandsmerkmal ist eine der Bedingungen der Norm, die erfüllt sein muss, damit die Rechtsfolge eintreten kann.

Merke:
Denke immer von der Rechtsfolge her und fange die Lektüre einer Vorschrift (Analyse einer Norm) mit der Rechtsfolge an. Die Rechtsfolge entscheidet darüber, ob die Norm relevant ist oder nicht.
 




B. Vorgehensweise eines Juristen
Mit einem zweiten Beispiel wird etwas ausführlicher geschildert, wie die oben beschriebenen Regeln in der Praxis funktionieren, d. h. wie mit juristischem Sachverstand Schritt für Schritt eine Problemlösung möglich ist. Mit der Erkenntnis, dass eine Norm sich aus Voraussetzungen und Rechtsfolgen zusammensetzt und dass die Rechtsfolge dabei über die Bedeutung der Norm entscheidet (und deshalb zuerst zu betrachten ist) kann sich der Jurist durch das Problem auf der anderen und durch die einschlägigen Vorschriften durcharbeiten. Auf diese Weise ist auch die Lösung eines Einzelfalles auf eine verlässliche und präzise Weise möglich.

1. Das Beispiel
Beispiel 2:
Pfiffig (P) findet im Onlineshop des Duselig (D) ein Notebook der Marke Birne, das normalerweise ca. 910 EUR kostet. In der Beschreibung des Gerätes steht u. a. „Preis auf Anfrage“. P erfragt den Preis per E-Mail. In der Antwort mit dem Betreff „Angebot“ teilt ihm D mit, dass P das Gerät für 190 EUR erwerben kann. P ist begeistert und schreibt dem D sofort, dass er das Angebot gern in Anspruch nehmen möchte.

Dabei hat sich D allerdings vertippt und statt 910 EUR 190 EUR geschrieben. Diese Angabe wurde durch das Warenwirtschaftssystem des Onlineshops übernommen, so dass das Gerät anschließend an P mit einer Rechnung über 190 EUR plus Versandkosten gesendet wird. P freut sich über das Schnäppchen und bezahlt es sofort nach Erhalt. D bemerkt den Fehler kurz darauf und meldet sich sofort bei P. Er teilt dem D mit, dass hier ein Irrtum vorliegt, weshalb er um Rückgabe des Gerätes bittet.

P ist damit nicht einverstanden. Schließlich wurde hier seiner Meinung nach ein Vertrag geschlossen, an den sich D halten muss.

Kann P das Gerät behalten oder muss er es zurückgeben?
 

2. Problemeingrenzung
Bei der Findung einer Antwort auf die gestellte Frage ist weniger juristisches Wissen als logisches Denken erforderlich. Die Frage kann ja auch etwas anders gestellt werden: hat P das Recht, das Gerät zu behalten? Auch bei rudimentärer Kenntnis juristischer Grundsätze kann man auf die Idee kommen, dass sich ein Recht zum Behalten einer Sache aus einem (Kauf-)Vertrag ergeben kann - habe ich eine Sache gekauft, kann ich sie (nachdem sie übergeben wurde) behalten. Ich kann mich mit einem Blick ins Gesetz auch versichern: § 433 Abs. 1 BGB besagt, dass ein Kaufvertrag - wenn er verbindlich ist - zur Übergabe und damit wohl auch später zum Behalten der Sache berechtigt.

Auf diese Weise kann die Frage wie folgt eingegrenzt werden: P kann das Gerät behalten, wenn zwischen ihm und D ein (rechtlich einwandfreier) Vertrag besteht.

3. Etwas juristisches Wissen
Um die Prüfung des Fallbeispiels etwas zu strukturieren soll an dieser Stelle ein kurzer Einblick in die rechtliche Struktur der Vertragsprüfung gegeben werden. Für die Antwort auf die Frage, inwiefern zwischen D und P ein Vertrag besteht muss nämlich klar sein, wann ein Vertrag besteht.

Der Jurist weiß, dass ein Vertrag zum einen geschlossen werden (§§ 145 ff. BGB), zum anderen aber auch wirksam - also in rechtlicher Hinsicht einwandfrei - sein muss. Es reicht also nicht, dass die Parteien sich vertraglich geeinigt haben. Es dürfen auch keine Umstände vorliegen, die aus Sicht des Gesetzgebers zur Ungültigkeit eines an sich geschlossenen Vertrages führen. Ist ein geschlossener Vertrag wirksam, dann ist sein Inhalt und seine Folgen - in unserem Fall: Lieferung des Gerätes - für die Vertragsparteien (also für P und D) verbindlich.

4. Das Hauptproblem




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