Version [93026]
Dies ist eine alte Version von ThuerBO50 erstellt von MarcelOschmann am 2019-01-07 16:03:42.
Thüringer Bauordnung [ThürBO]
Kommentar Prof. Dr. Sven Müller-Grune
§ 50 Barrierefreies Bauen |
(1) In Gebäuden mit mehr als zwei Wohnungen müssen die Wohnungen mindestens eines Geschosses barrierefrei erreichbar sein; diese Verpflichtung kann auch durch eine entsprechende Zahl barrierefrei erreichbarer Wohnungen in mehreren Geschossen erfüllt werden. In diesen Wohnungen müssen die Wohn- und Schlafräume, eine Toilette, ein Bad, die Küche oder Kochnische sowie die zu diesen Räumen führenden Flure barrierefrei, insbesondere mit dem Rollstuhl zugänglich, sein. § 39 Abs. 4 bleibt unberührt.
(2) Bauliche Anlagen, die öffentlich zugänglich sind, müssen in den dem allgemeinen Besucher- und Benutzerverkehr dienenden Teilen barrierefrei sein. Dies gilt insbesondere für
1. Einrichtungen der Kultur und des Bildungswesens,
2. Sport- und Freizeitstätten,
3. Einrichtungen des Gesundheitswesens,
4. Büro-, Verwaltungs- und Gerichtsgebäude,
5. Verkaufs-, Gast- und Beherbergungsstätten,
6. Stellplätze, Garagen und Toilettenanlagen.
Für die der zweckentsprechenden Nutzung dienenden Räume und Anlagen genügt es, wenn sie in dem erforderlichen Umfang barrierefrei sind. Toilettenräume und notwendige Stellplätze für Besucher und Benutzer müssen in der erforderlichen Anzahl barrierefrei sein.
Quelle
Kommentierung |
A. Normgeschichte
1. Historie
2. Gesetzesbegründung
2014
§ 50 regelt die Verpflichtung zur Herstellung der Barrierefreiheit bei baulichen Anlagen. Konkrete Anforderungen, wie die Barrierefreiheit erreicht werden muss, enthält die als Technische Baubestimmung eingeführte und damit grundsätzlich verbindliche DIN 18040. Aufgrund der Einführung der DIN 18040 ist Absatz 3 des bisherigen § 53 entbehrlich geworden.Absatz 1 verlangt, dass bei Gebäuden mit mindestens drei Wohnungen die Wohnungen mindestens eines Geschosses barrierefrei erreichbar sein müssen. Bestimmte Räume in diesen Wohnungen müssen nicht nur mit dem Rollstuhl zugänglich sein, sondern grundsätzlich im Sinne des § 2 Abs. 9 barrierefrei nutzbar sein. Diese Anforderung wird in der als Technische Baubestimmung eingeführten DIN 18040-2 durch den Begriff "barrierefrei nutzbare Wohnung" konkretisiert. Da die Herstellung der Barrierefreiheit andere Wohnungsgrundrisse erfordern kann, können bei übereinanderliegenden Wohnungen dann bautechnische Probleme entstehen, wenn diese Wohnungen nicht im obersten Geschoss liegen. Zur Vermeidung dieser Probleme wird zugelassen, dass die barrierefrei herzustellenden Wohnungen in mehreren Geschossen liegen dürfen.
Absatz 2 Satz 1 stellt bei der Verpflichtung zur Herstellung der Barrierefreiheit anderer baulicher Anlagen auf die öffentliche Zugänglichkeit ab, um zu gewährleisten, dass öffentlichen Zwecken dienende Anlagen von allen Menschen barrierefrei erreicht und ohne fremde Hilfe genutzt werden können. Die Anforderungen werden allerdings auf die dem allgemeinen Besucher- und Benutzerverkehr dienenden Teile - einschließlich Stellplätze und Garagen - beschränkt, da für Arbeitnehmer in diesen Anlagen andere Vorschriften, insbesondere des Schwerbehindertenrechts einschlägig sind.
Satz 1 wird gegenüber der bisher geltenden Regelung wesentlich gestrafft, da sich die Definition des Begriffs "barrierefrei" nun in § 2 Abs. 9 befindet. Die bisher genannten Personengruppen der alten Menschen und Personen mit Kleinkindern werden durch die barrierefreie Beschaffenheit der baulichen Anlagen in gleicher Weise begünstigt. Der Begriff "Besucherverkehr" wird erweitert auf "Besucher- und Benutzerverkehr", um zu verdeutlichen, dass sich die Barrierefreiheit bei baulichen Anlagen mit ständigen Benutzern, die nicht dort beschäftigt sind, wie beispielsweise Schüler oder Studenten in Schulen oder Hochschulen, auch auf die barrierefreie Benutzbarkeit für diesen Benutzerkreis erstreckt.
Eine Ausweitung des Anwendungsbereichs auf Arbeitsstätten erfolgt nicht, weil zum einen die speziellen Anforderungen an Arbeitsstätten insgesamt nicht im Bauordnungsrecht, sondern im Arbeitsstättenrecht des Bundes geregelt sind und zum anderen, weil behinderte Arbeitnehmer vorrangig in bestimmten Arbeitsbereichen (insbesondere Bürogebäuden) beschäftigt werden, sodass Anforderungen an alle Gebäude, in denen sich Arbeitsstätten befinden, unverhältnismäßig wären. Darüber hinaus ist bei den Anforderungen an Arbeitsstätten die jeweilige Art der Behinderung ausschlaggebend; Arbeitsplätze müssen daher nach Bedarf individuell ausgestaltet werden.
Satz 2 zählt beispielhaft auf, für welche Anlagen und Einrichtungen die Anforderungen des Absatzes 1 gelten. Der Katalog kann kurz gefasst und auf die wichtigsten Anlagen beschränkt werden, da es sich nicht um eine abschließende Regelung handelt. Die Nummer 5 wird klarstellend um Gast- und Beherbergungsstätten ergänzt, da es hier mehrfach Unsicherheiten gab, inwieweit mit dieser Abweichung von der Musterbauordnung eine Reduzierung der Anforderungen beabsichtigt ist.
Satz 3 erlaubt, dass die Anforderungen an die Barrierefreiheit auf den für die zweckentsprechende Nutzung tatsächlich erforderlichen Umfang beschränkt sein dürfen. Dies kommt insbesondere in Betracht, wenn mehrere gleichartige Räume oder Anlagen, wie Gastplätze in Gaststätten oder Besucherplätze in Versammlungsstätten zur Verfügung stehen.
Nach Satz 4 muss bei barrierefreien Anlagen ein Teil der für Besucher und Benutzer vorgesehenen Toilettenräume und der notwendigen Stellplätze barrierefrei sein. Ob und in welchem Umfang überhaupt Toilettenräume und Stellplätze zu schaffen sind, richtet sich nach den für die jeweilige Nutzung geltenden Bestimmungen.
Die bisherigen Absätze 3 und 4 entfallen. Absatz 3 ist entbehrlich, da sich zukünftig die konkreten Anforderungen an das barrierefreie Bauen aus der als Technische Baubestimmung eingeführten DIN 18040 Teile 1 und 2 unmittelbar ergeben sollen. Absatz 4, der bei einem unverhältnismäßigen Mehraufwand ein automatisches Entfallen der Anforderungen der Absätze 1 und 2 vorsah, soll angesichts der gestiegenen Bedeutung des barrierefreien Bauens entfallen. Soweit im Einzelfall ein auch unter Berücksichtigung der Bedeutung der Barrierefreiheit unverhältnismäßiger Mehraufwand zu erwarten ist, kann diesem durch die Zulassung einer Abweichung durch die Bauaufsichtsbehörde nach § 66 Rechnung getragen werden. Bei Neubauten werden die Voraussetzungen hierfür jedoch regelmäßig nicht vorliegen.
Thüringer Landtag Drucksache 5/5768
3. Verwaltungsvorschrift
Die Vorschriften des (Bundes-)Behindertengleichstellungsgesetzes und des Thüringer Behinderten-Gleichstellungsgesetzes bleiben unberührt. Die Grundanforderungen des barrierefreien Bauens werden durch die als Technische Baubestimmungen eingeführten Normen DIN 18040 für Gebäude und Wohnungen sowie DIN 18024 für Freiflächen konkretisiert.
Gestrichen wurde die Regelung, dass die Anforderungen an das barrierefreie Bauen (automatisch) nicht gelten, soweit sie wegen schwieriger Geländeverhältnisse, wegen des Einbaus eines sonst nicht erforderlichen Aufzugs, wegen ungünstiger vorhandener Bebauung oder im Hinblick auf die Sicherheit der Menschen mit Behinderung nur mit einem unverhältnismäßigen Mehraufwand erfüllt werden können.
Von der Streichung unberührt bleibt der dem Verwaltungsrecht immanente Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Daher kommt bei einem unverhältnismäßigen Mehraufwand die Zulassung einer Abweichung nach § 66 in Betracht. Dabei können folgende Gesichtspunkte eine Rolle spielen:
– Die Anforderungen an die Barrierefreiheit sind grundsätzlich genauso einzuhalten wie alle anderen Anforderungen der Bauordnung. Dadurch entstehende Mehrkosten sind daher im Allgemeinen hinzunehmen.
– Bei der Prüfung des Zwecks der Anforderung sind die Mehrkosten gegenüber dem Nach-teil für den betroffenen Personenkreis abzuwägen; je geringer der Vorteil ist, den der ge-schützte Personenkreis aus der jeweiligen Vorkehrung für die barrierefreie Nutzbarkeit er-langt, umso eher wird die Schwelle der Unzumutbarkeit für den Bauherrn überschritten (OVG Sachsen-Anhalt, 16.12.2010, 2 L 246/09).
- Differenziert werden kann nach dem Grad der Wahrscheinlichkeit einer Benutzung der Anlage durch den geschützten Personenkreis. Je größer die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine bauliche Anlage vom geschützten Personenkreis genutzt wird, desto größer ist auch das Gewicht des öffentlichen Interesses an der Barrierefreiheit. Je unwahrscheinlicher eine Nutzung durch ihn ist, desto weniger geeignet ist die Barrierefreiheit zur Durchsetzung ihres Ziels und desto geringer wird das Gewicht des öffentlichen Interesses sein (VGH Baden-Württemberg, 27.09.2004, 3 S 1719/03).
- Es kommt nicht auf den absoluten oder relativen Umfang der Kostensteigerungen an. Abzustellen ist vielmehr darauf, ob durch das Gesamtgebäude unter Berücksichtigung al-ler Anforderungen noch ein hinreichender (ggf. fiktiver) Ertrag erwirtschaftet werden kann.
- Regelmäßig wird es bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit nicht nur um die Alternativen „vollständige Erfüllung“ oder vollständige Nichterfüllung“ der Anforderungen gehen, son-dern um einen Verzicht auf einzelne Anforderungen.
Bestehende bauliche Anlagen sind bestandsgeschützt. Die Verpflichtung zur Umsetzung der Anforderungen an die Barrierefreiheit gilt daher nur bei Neubaumaßnahmen sowie baulichen Änderungen und Nutzungsänderungen, die nicht mehr vom Bestandsschutz umfasst sind.
50.1.1 Die barrierefreie Erreichbarkeit muss von der Straße sowie vom PKW-Stellplatz aus gegeben sein. Der Nachweis der barrierefreien Erreichbarkeit von Wohnungen erfolgt über die Einhaltung der als Technische Baubestimmung eingeführten DIN 18040 im Bereich der Erschließungswege.
50.1.2 Der Bauherr kann wählen, ob alle Wohnungen eines Geschosses oder eine entsprechende Zahl von Wohnungen in mehreren Geschossen barrierefrei erreichbar sein soll. Sind in den Geschossen unterschiedlich viele Wohnungen vorhanden, kann der Bauherr wählen, welches Geschoss barrierefrei ausgeführt bzw. als Vergleich herangezogen wird. Die barrierefrei er-reichbaren Wohnungen müssen in den in Satz 2 aufgeführten Teilen barrierefrei nutzbar sein.
50.2.1 Die Neuregelung verzichtet auf die Benennung des Personenkreises, für den öffentlich zugängliche Anlagen barrierefrei ausgestaltet werden müssen, da bei Einhaltung der Anforderungen an die Barrierefreiheit alle Personengruppen die Anlage in gleicher Weise nutzen können. Aufgrund der Definition der Barrierefreiheit in § 2 Abs. 9 müssen auch Vorkehrungen für die Nutzbarkeit durch Menschen mit Sinnesbehinderungen geschaffen werden (z.B. taktile, kontrastierende Gestaltung, Informations- und Leitsysteme).Im Rahmen eines Brandschutznachweises ist auch auf die Rettung von Personen mit Behinderungen einzugehen.
50.2.2 „Öffentlich zugänglich“ sind bauliche Anlagen, die nach ihrer Zweckbestimmung grundsätzlich von jedermann betreten und genutzt werden können. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die angebotene Dienstleistung öffentlicher oder privater Natur ist oder ob sie unentgeltlich oder gegen Entgelt erbracht wird.
50.2.3 Die Anforderungen an die Barrierefreiheit können sich auf den für die zweckentsprechende Nutzung tatsächlich erforderlichen Umfang beschränken. Maßstab ist die Herstellung einer diskriminierungsfreien Nutzbarkeit. Stehen mehrere gleichartige Räume oder Anlagen zur Verfügung (z.B. funktionsgleiche Klassenräume in einer Schule, Sitzungssäle oder Besucherplätze in einem Versammlungsraum), können einzelne Bereiche von der Barrierefreiheit ausgenommen oder z.B. unter zahlenmäßiger Beschränkung barrierefrei gestaltet werden. Ist aufgrund der Nutzung einer Anlage nicht mit der Anwesenheit von Menschen mit Behinderungen oder mit bestimmten Behinderungen zu rechnen, ist die Erfüllung der diesem Personenkreis dienenden Anforderungen an die Barrierefreiheit i.S.d. Satzes 2 nicht erforderlich.
50.2.4 Die konkret erforderliche Anzahl barrierefreier Toilettenräume und barrierefreier PKW-Stellplätze ergibt sich aus der Einführung der Anlage 7.3/1 zur DIN 18040-1 als Technische Baubestimmung. Für geregelte Sonderbauten gelten ggf. weitergehende Anforderungen der Sonderbauvorschriften.
VollzBekThürBO
B. Normauslegung
Zitiervorschlag:
Müller-Grune Sven, Kommentar zur Thüringer Bauordnung, Schmalkalden 2017, § 50.
© Prof. Dr. Sven Müller-Grune |
Zurück zur Inhaltsübersicht